Müllers Tour-de-Singkarak-Tagebuch

Vom Touristen- in den Überlebensmodus geschaltet

Von Robert Müller

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Robert Müller | Foto: Robert Müller

10.11.2018  |  (rsn) - Hallo aus Solok Selatan , West-Sumatra, Indonesien! Am siebten Tag der Rundfahrt stand die Königsetappe über 195 Kilometer und 2500 Höhenmeter mit zwei Bergwertungen der Hors Categorie an, wobei die erste dessen würdig und die zweite nur ein kleiner Hügel war.

Außerdem wusste ich aus dem Vorjahr, dass der nicht klassifizierte Anstieg am Ende, der mindestens eine Bergwertung der 2. Kategorie verdient gehabt hätte, noch einmal richtig hart werden würde. Ich liebäugelte damit, wieder in die Gruppe zu gehen, um mit Vorsprung auf das Feld in den langen Anstieg, der nach 70 Kilometern beginnen würde, fahren zu können. Ansonsten wollte ich die Etappe nur im großzügigen Zeitlimit überstehen, das bei rund einer Stunde liegen sollte.

Nach dem scharfen Start ging ich wie üblich die Startattacke mit, die jedoch nur halbherzig gefahren wurde und daher keinen Erfolg hatte. Eigentlich hätte nun eine Abfahrt kommen sollen, doch zuvor ging es einen ekligen Hügel hinauf, an dem erneut attackiert wurde, diesmal jedoch mit Nachdruck. Meine Beine signalisierten so früh im Rennen noch keine Einsatzbereitschaft und so ließ ich mich im Feld etwas zurückfallen, auch weil ich sah, dass mein Teamkollege Matej die Situation unter Kontrolle zu haben schien. Es setzte sich eine 18-köpfige Gruppe ab und ich dachte, dass Matej dabei wäre, doch er kam völlig entgeistert von vorne ins Feld zurück, denn auch bei ihm klemmte der Huf noch gewaltig.

Als wir zum vierten Mal während dieser Rundfahrt am Ostufer des Singkarak Sees entlang fuhren und das Tempo im Feld wegen einer kollektiven Pinkelpause, die traditionell der Mann im Gelben Trikot ansagt, komplett heraus genommen wurde, schaltete ich in den Touristenmodus. Ich suchte nach dem Hinterrad meines Teamkollegen Lex, an dem es sich stets angenehm fahren lässt, und genoss die Aussicht auf den See und die Berge dahinter. Nachdem der Abstand nach vorne vier Minuten betrug, wurde das Tempo wieder angezogen und die Verfolgung begann. Als wir auf eine schmale, schlechte Straße einbogen, war das Tempo dann so hoch, dass ich jäh in die Realität zurück geholt wurde.

Am Fuße des Anstiegs war der Abstand auf etwa eineinhalb Minuten reduziert worden, und als ich die erste steile Rampe voraus sah, ließ ich das Feld ziehen und schaltete in den Überlebensmodus. Dabei muss man aufpassen, dass man nicht zu locker fährt, sonst findet man sich oben in einer Loosergruppe wieder, in der man dann für den Rest der Etappe für das Tempo sorgen muss, weil es sonst keiner tut. Also fuhr ich mit nicht zu wenig Druck auf dem Pedal weiter, wobei ich an den vielen steilen Abschnitten mit meiner etwas zu dicken Übersetzung mehr Druck geben musste, als mir lieb war.

Der Anstieg war ein Monster und führte auf einer schlechten, oft steilen Straße über 1100 Höhenmeter auf 1600 Meter hinauf zu zwei malerischen Bergseen. Die Sonne brannte auf uns herunter und ich hätte mich liebend gerne in dem direkt neben der Straße fließenden, und wie ich annahm schön kühlen, Gebirgsbach erfrischt. Endlich kam das 1-km Schild bis zur Bergwertung in Sicht, doch es wurde noch einmal richtig steil bis dorthin. Oben befand ich mich in einer soliden 8-Mann Gruppe, die auf den nächsten 20 Kilometern auf dem Hochplateau an den Seen entlang auf 14 Fahrer anwuchs.

Nach einer kurzen Abfahrt stand die zweite Bergwertung der Hors Categorie an, die jedoch nur eine kleine Gegensteigung darstellte und nach meinem Empfinden nicht einmal klassifizierungswürdig war. Dennoch mahnte uns dort ein malaysischer Fahrer, nicht zu schnell zu fahren und gab die Devise "tomorrow race, now grupetto“ aus, die genau nach meinem Geschmack war. Nun stand eine lange und gefährliche Abfahrt auf erneut schlechter Straße mit vielen Schlaglöchern, Wasserstellen und Brücken an, auf der wir nicht zu viel Risiko eingingen.

Darauf folgte ein langes Flachstück und die Gruppe lief recht gut für ein Grupetto, da hatte ich schon weitaus Schlimmeres erlebt. Als die sechste Rennstunde anbrach, erreichten wir den Beginn des letzten Anstiegs, der unverständlicherweise nicht klassifiziert war, es jedoch mit 8 Kilometern Länge und 400 Höhenmeter noch einmal in sich hatte. Ein chinesischer Fahrer attackierte nach einem Disput mit einem anderen Fahrer, doch wir sahen ihm nur kopfschüttelnd hinterher und behielten unser moderates Tempo bei. Oben angekommen gratulierte ich mir selbst, es geschafft zu haben, denn nun ging es nur noch 10 Kilometer hinab ins Ziel.

Fünfeinhalb Stunden auf dem Rad, viereinhalb Stunden im Bus

Mit 23 Minuten Rückstand erreichten wir dieses geschlossen als Gruppe und ich begab mich direkt zu unserem Teambus, wo Matej und Lex schon auf mich warteten, denn das Tagewerk war erst zur Hälfte vollbracht. Nach fünfeinhalb Stunden auf dem Rad hatten wir noch viereinhalb Stunden im Bus vor uns, denn wir waren während des Rennens durchgehend in eine Richtung gefahren und mussten nun einen Großteil davon wieder zurück ins Hotel. In meinen Beinen fanden während des Transfers irgendwelche Zerfallsprozesse statt und sie hätten besser in ein Abklingbecken gehört, als stundenlang im Bus eingequetscht zu sein.

Falls sich übrigens Leser wundern sollten, warum ich hier nie etwas von Wattwerten schreibe; es liegt daran, dass ich ohne Wattmesser fahre. Ich verfolge nämlich meine eigene Philosophie, die reine Lehre genannt, und diese beinhaltet unter anderem den Verzicht auf Powermeter, Pulsmesser, Rollentraining, Trainingspläne, Kaffeepausen, Pillen, Ernährungsvorschriften und Scheibenbremsen, um nur ein paar Dinge zu nennen. Die reine Lehre soll einen Gegenentwurf zum hippen Schicki-Micki-Lifestyle-Radsport, wie er neuerdings in Magazinen und auf Instagram propagiert wird, bilden und orientiert sich am heroischen Zeitalter des Radsports, als er noch ein knüppelharter Sport der Arbeiterklasse war. Außerdem soll Radsport demnach um seiner selbst Willen betrieben werden und Rad fahren ein Naturerlebnis darstellen, von dem man möglichst wenig durch überflüssigen technischen Schnick-Schnack abgelenkt wird.

Morgen steht nun schon die letzte Etappe über 158 hauptsächlich flache Kilometer an und es könnte zum zweiten Massensprint der Rundfahrt kommen, was wohl eine gute Motivation für Lucas Carstensen war, sich durch die heutige Etappe zu quälen. Niko Holler ist nach einem zehnten Platz heute nun Zweiter im Gesamtklassement, genauso wie Bike Aid in der Teamwertung und ich denke, da geht noch was.

Geschenk des Tages: wird Morgen nachgereicht.

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle

Gez. Sportfreund Radbert

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