Watterotts Flandern-Rundfahrt-Retrospektive

Von Löwen, Gladiatoren und Glorreichen / Teil 1

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

02.04.2014  |  (rsn) - Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

Flandern-Rundfahrt / Teil 1

1913 – „Heeren, vertrekt“
Als erster Belgier gewinnt Odile Defraye aus Rumbeke in Westflandern 1912 nach 5.289 Kilometern die Tour de France, die bereits seit 1903 ausgetragen wird. Seine Landsleute bereiten ihm einen triumphalen Empfang. Mit einem Autokorso wird er durch den Ort gefahren und bejubelt. Belgien hat einen neuen Helden. Damit beginnt der Aufbruch in eine neues Abenteuer.

Die Begeisterung im Land der Flamen und Wallonen will der Belgier Carolus Ludovicus Steyaert, der unter dem Pseudonym Karel Van Wijnendaele Jounalist der flämischen Sportzeitung Sportwereld ist, ausnutzen und zusammen mit seinem Kollegen Leon Van Den Haute, der etwas von Geld und Geschäft versteht, ein großes Eintagesradrennen veranstalten, das durch Flandern führen soll.

Im wallonischen Teil Belgiens gibt es bereits seit 1892 das Rennen Lüttich-Bastogne-Lüttich, das sich großer Beliebtheit erfreut. Und so erkennt Van Wijnendaele diese Lücke und organisiert 1913 die erste Flandern-Rundfahrt für seine radsportbegeisterten Landleute.

Am Sonntag, den 23.Mai 1913 starten in Gent 37 Rennfahrer zur ersten und zugleich längsten „Ronde“ über 370 Kilometer. Mit den Worten: „Heeren, vertrekt“ (Meine Herren, der Start ist freigegeben), schickt Van Wijnendaele bei blauem Himmel, aber großer Kälte und später feinem Nieselregen das Profi-Häuflein auf die beschwerliche Reise über schlechte Wegstrecken mit Kopfsteinpflasterbelag.

Nach 12 Stunden und drei Minuten, bei einem Stundmittel vom 30,705 km/h überquert Paul Deman aus Belgien den Zielstrich als Premierensieger in Flandern. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, macht sich das belgische Militär Demans Radsporttalent zu Nutze. Er bringt mit seinem Rennrad geheime Nachrichten in die Niederlande, die er in seinem Goldzahn versteckt hat. Kurz vor Kriegsende wird Paul Deman von den Deutschen zum Tode verurteilt.

Aber das Schicksal meint es gut mit dem 24-Jährigen. Er wird von amerikanischen Soldaten befreit. Nach dem Krieg gewinnt er 1920 noch Paris-Roubaix und produziert später noch Fahrräder. Viele seine Landsleute erlangen durch einen Sieg bei der Flandern-Rundfahrt großen Ruhm und Popularität. Aber Paul Deman der 1961 im Alter von 72 Jahren stirbt, hat schon bei der Premiere vor 100 Jahren durch seine mutige Fahrweise die Massen begeistert.

1942 –„Briek“ Schotte, der Dauerbrenner
Mitten in der Siegesserie des Belgiers Achiel Buysse geht ein neuer Stern auf. Briek Schotte beherrscht seine Gegner und ist sechs Jahre später 1948 erneut erfolgreich. Kurz vor seinem Tod 2004, just am Tag der 89. Flandern-Rundfahrt, sagt Schotte, das größte Unglück seines Lebens bestehe darin, dass er es nicht in die Liste der dreimaligen Flandern-Sieger geschafft habe. Er bezeichnet trotz der beiden Siege das Rennen im Jahr 1950 als seinen größten Erfolg, als er, die Finger klamm vor Kälte, mit Hilfe eines Zuschauers einen Platten flickt und sich durch die Windböen und Schneewehen wieder fast bis zur Spitzengruppe nach vorne kämpft. Der Sieger nach 273 Kilometern quer durch Flandern heißt damals Fiorenzo Magni aus Italien.

Briek Schotte nimmt zwischen 1940, als jüngster Teilnehmer und 1959, als ältester Fahrer, ununterbrochen – also zwanzigmal – an der Ronde van Vlaanderen teil. Dieser Rekord ist bis heute ungebrochen und bringt ihm dem Spitznamen „Der Eiserne“ ein. Bei seinem Debüt 1940 wird Schotte Dritter und bei seinem Abschied von Flandern muss er vorzeitig wegen eines Rahmenbruchs aufgeben.

1949 – 1951 Fiorenzo Magni – Il Magnifico
Die frühen 1950er-Jahre werden erstmals von einem Italiener geprägt. Er kommt aus Vaiano di Prato in der Provinz Florenz und ist der erste Profi, der nach dem Belgier Achiel Buysse das Kunststück fertig bringt, die Flandern-Rundfahrt dreimal zu gewinnen. Und das sogar dreimal nacheinander, das ist ein neuer Rekord.

Bis dahin haben seit der Premiere im Jahr 1913 mit Henri „Heiri“ Suter ein Schweizer und 31 Belgier die „Ronde“ beherrscht. Die italienischen Tifosi geben ihm den Spitznamen „Löwe von Flandern“. Magni hat 1948 den Giro d’ Italia gewonnen, weil er der beständigste Fahrer über drei Wochen war. Er hatte seine großen Rivalen der damaligen Zeit, Fausto Coppi und Gino Bartali, in die Schranken gewiesen. Die Coppi- und Bartali-Anhänger beleidigen Magni auf der Mailänder Vigorelli-Bahn so massiv, dass er seine Ehrenrunde abbrechen muss, einer der traurigsten Momente seines Lebens.

Der baumlange Modellathlet Magni vergisst diesen Moment nie und sucht einen anderen Weg, um sein Können unter Beweis zu stellen. Im Winter hat er eine Idee und nennt sie Flandern-Rundfahrt. Er lernt alles, was er über die Strecke und die Beschaffenheit des Rades für das Rennen über Kopfsteinpflaster wissen muss: den Lenker mit Schaumgummi polstern, schwere Schlauchreifen der Firma Clement aufziehen und Felgen aus Holz für mehr Elastizität montieren. Sein Wilier-Team hat kein Interesse ihn zu unterstützen. Begründung: „Ein Italiener kann genauso wenig die Flandern-Rundfahrt gewinnen, wie ein Flame den Giro d’Italia. Wenn Du dort hin willst, geh, aber auf eigene Kappe“.

Er bereitet sich auf das Abenteuer vor, wird zuvor Sechster bei Mailand-Turin und Dritter bei Mailand-San Remo. Magni ruft bei der italienischen Sportzeitung Gazzetta dello Sport den Radsportjournalisten Guido Giardini an, informiert ihn, dass er zusammen mit seinem Helfer Tino Ausenda mit dem Nachtzug nach Brüssel fahren will, um die Flandern-Rundfahrt als erster Italiener zu gewinnen. Mit zwei Koffern und zwei Rennrädern, aber ohne Team und Mechaniker. Giardini, ein Fan des flämischen Radsports, verspricht ihm zu kommen. Das wolle er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Ein alter Ex-Profi im Hotel, dessen Bruder in 1920er-Jahren die Ronde gewonnen hatte, verspricht, seinen alten Masseur für Magni 80 Kilometer vor dem Ziel zu postieren, um ihm Verpflegung und heißen, süßen Tee anzureichen.

Auf einem der steilen Kopfsteinpflasterberge, dem Oude Kwaremont, hängt Fiorenzo Magni am 10.April 1949 fast alle ab. Fünf Kilometer vor dem Ziel wird er von den Belgiern Raymond Impanis und „Brik“ Schotte eingeholt. Aber Magni verschärft sofort das Tempo und distanziert die Gegner.

Schließlich schlägt Magni seine letzten Widersacher im Spurt und siegt erstmals bei der Flandern-Rundfahrt, so wie er es Giardini versprochen hatte. Durch Charakterstärke, Intelligenz und unbeugsamen Willen verdient er sich endlich den Respekt der italienischen Medien und der Fans. Und auch den Respekt gegenüber Fausto Coppi und Gino Bartali.

Fiorenzo Magni stirbt am 19. Oktober 2012 im Alter von fest 92 Jahren in seiner Heimat Monza.

1950 - Zuschauermagnet Muur van Geraardsbergen
Tausende begeisterte Zuschauer strömen seit 1950 an diese berühmte und gefürchtete Stelle, um dort die „Giganten der Landstraße“ zu sehen und anzufeuern. Der Organisator Karl van Wijnendaele lernt durch seinen Freund Robert Piérard kurz vor dem Zweiten Weltkrieg diese 20 Prozent steile Steigung kennen und ist sofort begeistert. Aber es kommt an dieser schmalen Passage regelmäßig zu Stürzen im Feld und auch die Begleitfahrzeuge sorgen für Verwirrung und Risiko. In der Folge wird von 1954 bis 1970 die Muur aus dem Programm genommen.

Dann aber folgt die Wiedergeburt und ab 1981 sogar noch ein weiteres Kopfsteinpflasterstück hinauf zur Kapelmuur, bis zu 18 Prozent steil. Haben die Fahrer den Kulminationspunkt erreicht, steht am linken Straßenrand eine kleine Kapelle, die mit zahllosen Siegerschleifen und Radtrikots geschmückt ist. Seit 2012 müssen die Fans auf das Volksfest an dieser Stelle verzichten, denn die Organisatoren wählen eine andere Streckenführung mit Oude Kwaremont und Paterberg als die beiden letzten von insgesamt 17 Steigungen, im Flämischen Hellingen genannt.

1954 – Zieleinlauf erstmals mit Fotofinish
In diesem Jahr wird die Reihenfolge nach 255 Kilometer mittels Zielfilm ermittelt. Die Fahrer müssen ihre Startnummer auf der linken Seite tragen und damit konnten die Zielrichter den genauen Einlauf erkennen. In der zeitlichen Periode davor standen Kampfrichter mit Bleistift und Papier am Zielstrich und notierten, so gut sie eben konnten, die Nummern der ankommenden Fahrer. Zum Glück waren die Teilnehmerfelder in den Anfängen und ersten Jahren nicht so groß und Fehler damit nicht so häufig.

1957 - Fausto Coppi nicht dabei
Eine der großen Lücken in der Geschichte der Flandern-Rundfahrt ist die ständige Abwesenheit des italienischen Campionissimo Fausto Coppi. 1948 gewinnt Coppi das Rennen Omloop Het Volk, wird aber disqualifiziert, weil er von einem Teamgefährten ein Rad bekommen hatte, was nach dem Reglement verboten war. Coppi bleibt allen belgischen Rennen über Jahre fern. Dann will er doch bei der Flandern-Rundfahrt starten und verlangt ein garantiertes Startgeld. Aber die Organisatoren weigern sich prinzipiell. 1957 lässt sich Coppi Wochen vor dem Start in die Teilnehmerliste einschreiben. Aber der Italiener hat sich kurz vorher bei einem Sturz verletzt und muss den Start absagen.

Teil 2 folgt morgen.

Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 72-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.


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