Watterotts Il Lombardia-Retrospektive / Teil 2

Sieg durch 28 hartgekochte Eier und der Tag der Gemse

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

03.10.2014  |  (rsn) - Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) / Teil 2

1926 – Sieg durch 28 hartgekochte Eier
Trotz schrecklichem Wetter liefert der dreimalige Lombardia-Sieger Alfredo Binda aus Italien eine Glanzleistung ab, siegt nach neun Stunden und 52 Minuten vor seinem Landsmann Antonio Negrini, der eine halbe Stunde Rückstand hat. Sein Erfolgsrezept: Er verpflegte sich unterwegs mit 28 hartgekochten Eiern.

1940 – Mit Wut im Bauch zum dritten Sieg
Die beiden italienischen Camponissimi Gino Bartali und Fausto Coppi sind Teamgefährten im Legnano-Rennstall und trotzdem Rivalen. Als Bartali wegen eines Defektes am Fuße der Steigung zur Madonna del Ghisallo zurückfällt, greift Coppi an. Voller Wut bündelt Bartali seine Kräfte, überholt Coppi in einer wilden Verfolgungsjagd und fährt noch mit vier Minuten Vorsprung als Erster über den Zielstrich.

1948 – Die Madonna von Ghisallo – Schutzpatronin der Radsportler
Am 13.Oktober wird im Vatikan die heilige Radfahrerflamme entzündet und in einer tagelangen Stafette zum Ghisallo-Pass gebracht, wo sie noch heute inmitten des viel besuchten Kirchleins brennt.

Der Dorfpriester des malerischen Ortes Magrélio, Don Ermelindo Vigano, hat anfangs des Jahres die Idee, die Kirche zu Ehren der Madonna von Ghisallo zu einer Pilgerstätte für Radsportler auszuschmücken. Es gelingt ihm, während des Giro d’ Italia, der immer im Mai ausgetragen wird, das gesamte Fahrerfeld von seiner Idee zu überzeugen. Das Peloton unterzeichnet ein Bittschreiben an Pius XII. Der Papst möge die Madonna von Ghisallo zur Schutzpatronin aller Radsportler erklären. Der Heilige Vater lässt sich einige Monate Bedenkzeit.

Am Ende sind es offenbar die Frömmigkeit des großen Gino Bartali und die Überzeugungskraft des Dorfpriesters Don Ermelindo Vigano, die Papst Pius XII überzeugen. Am Eingang der Kirche steht eine lorbeerbekränzte Büste Fausto Coppis, das Kirchenschiff beinhaltet wertvolle Trophäen berühmter Radprofis. Räder von Merckx, Girardengo, Bartali, Moser und Gimondi. Rosa Trikots, Gelbe Trikots und Weltmeistertrikots sowie Medaillen von vielen bekannten und unbekannten Sportlern machen das Innere der Kirche zu einem einmaligen Wallfahrtsort des Radsports.

„… und Gott erschuf das Rad, auf dass es dem Menschen auf der harten Straße des Lebens als Werkzeug der Mühsal und der Leidenschaft diene…“ So lautet die Inschrift auf dem Denkmal an der Kapelle der Madonna von Ghisallo.

1961 – Der Tag der „Gemse“ aus den Abruzzen
Ein Jahr zuvor hatte Rennleiter Vincenzo Torriani, ähnlich wie beim Frühjahrsklassiker Mailand-San Remo, durch die Hereinnahme einer spektakulären Steigung in den Rennkurs, dafür gesorgt, dass es zu einer vorzeitigen Selektion vor dem Ziel kam. Die Einführung der Mauer von Sormano, rund zwei Kilometer lang und bis zu 25 % steil, bevorteilt die Kletterspezialisten.

Und begünstigt werden auch die italienischen Rennfahrer, aber nicht nur durch den frenetischen Applaus und die Anfeuerungsrufe ihrer Anhänger, sondern sie werden auch angeschoben und nach oben gedrückt, was natürlich verboten ist. Vito Taccone aus Avezzano bewältigt die Sormano-Steigung vor seinem Landsmann Imerio Massignan als Erster und feiert auf der Sinigaglia-Bahn in Como seinen Sieg.

1962 – Rolfs Wolfshohl wieder einmal vom Pech verfolgt
Selten ist in diesem Jahr für einen deutschen Radprofi der Sieg so zum Greifen nahe wie für den Straßen- und Querfeldeinspezialist aus Köln-Kalk. In blendender Form hat Wolfshohl das ganze Jahr bestritten mit dem zweiten Platz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich, dem dritten Rang bei Paris-Nizza, Siegen bei der Tour de l’Aude, dem Grand Prix von Eibar und Orchies sowie dem vierten Platz bei der Straßen-Weltmeisterschaft in Salo am Gardasee hinter dem Sieger Jean Stablinski aus Frankreich.

Und seine Verfassung beim Rennen der fallenden Blätter ist immer noch erstklassig. An der vorletzten Steigung zur Kirche der Madonna del Ghisallo liegt er alleine an der Spitze und überquert die Passhöhe als Erster vor dem italienischen Silbermedaillen-Gewinner im olympischen Straßenrennen von Rom 1960, Livio Trapé. Nichts scheint Wolfshohl stoppen zu können und am letzten Hindernis, der berüchtigten Wand von Sormano, 1.124 Meter über dem Meer, fast zwei Kilometer lang, mit Steigungsprozenten bis zu 25%, führt Wolfshohl mit fast drei Minuten Vorsprung.

Dieses steile Stück ist eigentlich ein asphaltierter Ziegenpfad, ein Jahr zuvor speziell angelegt und bezahlt vom italienischen Fernsehen RAI, damit der Sender auch spektakuläre Bilder „schießen“ kann.

Plötzlich hat Wolfshohl Probleme mit der Schaltung, ein Defekt am vorderen großen Kettenblatt führt dazu, dass er ins „Leere“ tritt und absteigen muss. Kein Materialwagen mit einem Mechaniker in Sicht, die schmale Straße zu eng für Autos. Wieder einmal zerplatzt der Traum von einem großen Sieg, und das alles nur 15 Kilometer vor dem Ziel in Como.

Der spätere Sieger Jo de Roo aus den Niederlanden hat auch mit technischen Problemen an seiner Rennmaschine zu kämpfen, holt aber nach einer waghalsigen Abfahrt den führenden Livio Trapé noch ein, besiegt ihn im Spurt und wiederholt seinen Sieg nur ein Jahr später in Como vor dem italienischer Sprinter-Ass Adriano Durante.

Nach nur drei Austragungen mit der Mauer von Sormano wird dieser Streckenteil von der Rennleitung wieder aus dem Programm genommen. Damit ist auch das unfaire Verhalten der italienischen Fans, die nur ihren eigenen Landsleuten durch verbotenes Hinaufschieben halfen, endlich unterbunden.

1971 – Endlich Eddy Merckx - trotz Blockade
In diesem Jahr macht der Belgier seinem Namen „Kannibale“ alle Ehre. Er gewinnt im Frühjahr Mailand-San Remo, den Omloop Het Volk in Gent, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Rund um den Henninger Turm und die Tour de France, trotz des großen Widerstandes von Luis Ocaña aus Spanien. Nach dem Sieg bei der Weltmeisterschaft im Tessiner Ort Mendrisio steht Merckx im Regenbogentrikot am Start der Lombardei-Rundfahrt. Die rivalisierenden Italiener bilden plötzlich eine Einheit und sagen:“ Jeder von uns darf gewinnen, aber auf keinen Fall Merckx“.

Der Belgier, bis heute mit 525 Siegen immer noch der erfolgreichste Radprofi der Welt, erwischt einen blendenden Tag, kontert alle Angriffe der Konkurrenz und siegt mit drei Minuten und 31 Sekunden Vorsprung vor Franco Bitossi aus Italien. Dieses Kunststück wiederholt er nur ein Jahr später. 1973 überquert er erneut den Zielstrich in Como als Erster. Aber die Freude dauert nicht lange.

Wenig später, beim Sechstagerennen in Rotterdam, wird bekannt, dass Merckx gedopt haben soll. Der Arzt Dr. Cavalli gibt seinen Fehler zu, dass er vier Tage vor dem Rennen Merckx wegen einer Erkältung das Mittel Norephedrine verabreicht hatte, was auf der Verbotsliste stand. Eines seiner besten Jahre endet mit einem Missklang, und Felice Gimondi aus Italien wird zum Sieger erklärt.


Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 73-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.

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