Spannendste Rennen: Tour de France 2011, 18. Etappe

Ziel Galibier: 62 Kilometer voll auf Angriff

Von Eric Gutglück

Foto zu dem Text "Ziel Galibier: 62 Kilometer voll auf Angriff "
Andy Schleck gewann 2011 am Galibier die 18. Etappe der Tour de France | Foto:

15.04.2020  |  (rsn) – Welches war das spannendste Rennen dieses Jahrtausends? Diese Frage stellten sich die Redakteure von radsport-news.com. Eric Gutglück erinnert sich vor allem an die 18. Etappe der Tour de France 2011 zum Col du Galibier.

Zu abwartend, zu wissenschaftlich, zu langweilig: Im modernen Radsport stehen die Bergetappen der Tour de France in der Kritik, nur wenig unterhaltsam zu sein. Oft warten die Favoriten bis zum Schlussanstieg oder lassen ihre Helfer ein so hohes Grundtempo anschlagen, dass frühzeitige Attacken und beeindruckende Solofluchten eines Sieganwärters wie zu früheren Zeiten blankes Harakiri wären. Doch die 18. Etappe der Tour de France 2011 sollte allen ein Beispiel dafür sein, dass auch der moderne Radsport für epische Rennen und viel Spannung sorgen kann.

Schon beim Blick auf das Profil durfte man getrost das Wort "Königsetappe“ in den Mund nehmen. Insgesamt 200,5 Kilometer mit 5200 Höhenmetern galt es an jenem 21. Juli 2011 zu bewältigen. Gespickt war der im italienischen Pinerolo gestartete Tagesabschnitt mit dem 2744 Meter hohen Col d’Agnel, dem 2360 Meter hohen Col d’Izoard sowie dem mythischen Col du Galibier, wo die Tour auf 2645 Metern Höhe die höchste Bergankunft in ihrer Geschichte vorsah. Doch was an diesem Tag geschah, ging als einer der spektakulärsten Rennverläufe in die Geschichte des modernen Radsports ein.

Zusätzlich zum anspruchsvollen Etappenprofil brachte die Ausgangslage im Gesamtklassement zusätzliche Würze. Thomas Voeckler trug das Gelbe Trikot, welches er auf der 9. Etappe als Ausreißer übernommen und durch die Pyrenäen bis in die Alpen verteidigt hatte. Mit 1:18 Minuten Vorsprung führte der Franzose vor Cadel Evans, sein Abstand auf die Brüder Fränk und Andy Schleck betrug 1:22 Minuten, bzw. 2:36 Minuten.

Vor allem der jüngere Andy Schleck hatte bei dieser 98. Tour de France bis dato einen schweren Stand. Nach zwei zweiten Plätzen in den Vorjahren (der Sieg 2010 wurde ihm im Jahr 2012 am Grünen Tisch zugesprochen) galt der Luxemburger diesmal als Topfavorit, zumal sein Dauerrivale Alberto Contador im Mai bereits einen kräfteraubenden Giro gewonnen hatte und bei der Tour im Klassement 3:15 Minuten Rückstand auf Voeckler aufwies.

Schleck mit dem Rücken zur Wand

Doch Schlecks Ausgangslage war ungünstig. In den Bergen konnte er keine Zeit zwischen sich und Cadel Evans legen – im Gegenteil: Auf der regnerischen Abfahrt der 16. Etappe nach Gap hatte der Leopard-Trek-Kapitän über eine Minute auf den Australier eingebüßt, der zudem noch das Einzelzeitfahren am 20. Tag auf seiner Seite wusste.

Mit dem Rücken zur Wand, musste Schleck also angreifen. Doch während dieser Tour trat immer wieder ein großes taktisches Problem auf: Jedes Mal, wenn der jüngere der Schleck-Brüder, etwa am Plateau de Beille, eine Lücke gerissen hatte, schaute er sich sofort nach seinem Bruder Fränk um. War dieser nicht am Hinterrad brach Schleck den Versuch ab. Kritik wurden laut, er könne die Tour nie gewinnen, da er zu sehr auf seinen Bruder achtgab, statt seine Vorstöße konsequent durchzuziehen und seinen Rivalen Zeit abzuknöpfen.

Auf jener 18. Etappe wurde Andy Schleck aber diesen taktischen Makel los. Bereits am Fuß des Col d’Izoard erhöhte Stuart O’Grady als letzter seiner Helfer am Ausgang des kleinen Ortes Brunissard das Tempo im Gegenwind. Kaum bog die Favoritengruppe hinter dem Dorf in den Wald ein, erhöhte Andy Schleck im Rückenwind die Schlagzahl und ging fast 62 Kilometer vor dem Etappenziel zum Angriff über. Kein Umblicken, kein Warten auf den Bruder: Schleck hatte eine klare Mission und die bestand darin, so viel Zeit wie möglich auf Evans herauszuholen und den BMC-Kapitän unter Druck zu setzen.

Der Angriff kam nicht von ungefähr und war von langer Hand vorbereitet. Leopard-Trek hatte mit Joost Posthuma und Maxime Monfort zwei Helfer in der Spitzengruppe platziert, die nun als Joker zum Tragen kamen. Posthuma ließ sich zu Schleck zurückfallen und spendete seinem Kapitän Windschatten auf dem kurzen Flachstück durch die Casse Deserte, knapp zwei Kilometer unterhalb des Col d’Izoard. Die letzten Meter zum Gipfel nahm Schleck wiederum allein in Angriff, wo er in der Abfahrt mit Monfort den nächsten Helfer vorfand. Der Vorsprung oben auf dem Izoard betrug gegenüber der restlichen Favoritengruppe bereits 2:15 Minuten. Das Gelbe Trikot geriet langsam in Reichweite.

Per Relaisstation Richtung Galibier

Dank Monfort baute Schleck seinen Vorsprung in der Abfahrt in Richtung Briancon auf drei Minuten aus und lag als virtueller Gesamtführender nur noch 45 Sekunden hinter dem Spitzenreiter Maxim Iglinskiy. Nun setzte das große Rechnen ein: Wieviel Vorsprung könnte Schleck bis zum Ziel herausfahren? Wieviel Zeit müsste er gegenüber Evans herausfahren, um am vorletzten Tag im Einzelzeitfahren über 41 Kilometer nicht den möglichen Toursieg aus den Händen zu geben? Und wie lange würde Voeckler sich noch an sein Gelbes Trikot klammern können?

Da im Tal Richtung Col du Lautaret und Col du Galibier Gegenwind herrschte, entpuppte sich Monforts Anwesenheit als Glücksfall für Schleck. Der Belgier stellte sich voll in den Dienst seines Kapitäns, so dass Iglinskiy bald eingeholt war. Auf der leicht ansteigenden Straße in Richtung Lautaret gab Monfort alles, doch gut 18 Kilometer vor dem Ziel musste Schlecks letzter Helfer die Segel streichen. Der Vorsprung auf die Favoritengruppe betrug zu dem Zeitpunkt 3:45 Minuten, so dass Schleck mit 1:09 Minuten vor Voeckler und 2:27 Minuten vor Evans vom Toursieg träumen durfte.

Doch der Luxemburger war fortan auf sich allein gestellt. Gemeinsam mit Iglinskiy erreichte er den Col du Lautaret etwa neun Kilometer unterhalb des Ziels auf dem Galibier. Der Kasache war allerdings keine Hilfe mehr und Schleck musste nun solo zum Ziel fahren. Mit fast vier Minuten Vorsprung auf die weiteren Favoriten am Lauteret war der Tagessieg an Schleck vergeben, doch die spannendere Frage war: Würde er auch Gelb übernehmen und wieviel Vorsprung würde er auf die anderen Favoriten herausfahren?

Allerdings hatten die Verfolger den Ernst der Lage erkannt. Vor allem Evans erlebte sein Deja-vu, hatte er doch drei Jahre zuvor in einer ähnlichen Situation hinauf nach Alpe d’Huez zu passiv agiert und Carlos Sastre zu viel Vorsprung gelassen. Diesmal war es der Australier, der bei den Favoriten das Tempo machte, so dass letztlich nur noch Fränk Schleck, Ivan Basso und Voeckler folgen konnten. Alberto Contador musste am Galibier endgültig einsehen, dass er diese Tour nicht gewinnen würde.

Etappensieg ja, aber Gelb?

Oben auf dem Galibier kämpfte Andy Schleck zusehends gegen seine schweren Beine an. Sein Tritt wurde immer schwerer, sein Vorsprung schmolz dahin. Auf dem letzten steilen Kilometer vom Tunnel bis zur Passhöhe stand der leichtgewichtige Kletterer förmlich. Doch zumindest der Tagessieg war perfekt: Laut jubelnd überquerte der Mondorfer den Zielstrich der höchsten Etappenankunft der Tourgeschichte - nach einem mutigen Angriff und einer perfekten Teamleistung. 2:07 Minuten später machte Bruder Fränk den Doppelsieg der Schlecks perfekt, Cadel Evans folgte acht Sekunden danach – und Thomas Voeckler rettete an jenem denkwürdigen Tag mit letzter Kraft sein Gelbes Trikot.

Im Gesamtklassement führte der Elsässer mit nur noch 15 Sekunden vor Andy Schleck, dessen Bruder wies 1:08 Minuten und Evans 1:12 Minuten Rückstand auf. Am folgenden Tag nach Alpe d’Huez brach Voeckler schließlich ein und verlor das Maillot Jaune an Andy Schleck – doch nur einen Tag später übernahm es Evans im Zeitfahren von Grenoble vom Luxemburger und sicherte sich als erster Australier den Sieg beim größten Radrennen der Welt.

Andy Schleck stand dabei zum dritten Mal in Folge als Zweiter auf dem Schlusspodium. Sein packender Ritt auf den Galibier blieb auch sein letzter Sieg; 2014 musste Schleck seine Karriere aufgrund hartnäckiger Knieprobleme beenden. Dennoch war sein letzter Erfolg einer der besten Tage, die es im Radsport der jüngeren Vergangenheit gegeben hat.

Weitere Radsportnachrichten

04.07.2025Aldag: “Wir haben alles gemacht, um die Tour zu gewinnen“

(rsn) - Red Bull – Bora – hansgrohe nimmt den zweiten Anlauf, um mit Primoz Roglic die Tour de France zu gewinnen. Darauf hat sich das einzige deutsche WorldTour-Team vorbereitet. Was die Raublin

04.07.2025Wechselt Groenewegen zu Unibet - Tietema Rockets?

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

04.07.2025Statt dem Duell gegen Vingegaard erneut eine Pogacar-Show?

(rsn) – Im Grunde ist die Geschichte schnell erzählt: Seit 2021, also seit Tadej Pogacar (UAE – Emirates – XRG) und Jonas Vingegaard (Visma – Lease a Bike) gemeinsam die Tour de France bestri

04.07.2025Bauhaus will im ´Freestyle´ an die richtigen Hinterräder

(rsn) – Fünf Top-5-Platzierungen hat Phil Bauhaus (Bahrain Victorious) bei seinen zwei Tour-de-France-Teilnahmen bislang ersprintet – drei 2023, zwei 2024. Im dritten Anlauf sollen noch ein paar

04.07.2025Teams packen zur Tour wieder Sondertrikots aus

(rsn) – Es ist inzwischen ein jährlich wiederkehrendes Ritual: Kurz vor der Tour de France präsentieren einige Mannschaften Sondertrikots für die drei Wochen in Frankreich. Weil zum Saison-Highli

04.07.2025Brilliert Milan bei seiner Tour-Premiere?

(rsn) – Der diesjährige Grand Départ bietet erstmals seit 2020 wieder den Sprintern die Chance, das Gelbe Trikot zu erobern, denn gleich in Lille stehen die Zeichen am Ende der 1. Etappe auf Masse

04.07.2025Die Aufgebote für den 36. Giro d´Italia Women

(rsn) – Mit dem Giro d’Italia Women (6. – 13. Juli / 2.WWT) steht einen Tag nach dem Start der Tour de France der Männer die zweite Grand Tour der Frauen an. Die 36. Ausgabe der Italien-Rundfa

03.07.2025Die zehn deutschen Starter bei der 112. Tour de France

(rsn) – Zehn deutsche Radprofis und damit so viele wie zuletzt 2021, als noch Tony Martin oder André Greipel am Start waren, werden am 5. Juli in Lille die Tour de France 2025 in Angriff nehmen. Im

03.07.2025“Misserfolge schärfen dich“: Roglic lacht seine Dämonen an

(rsn) – Zum siebten Mal in seiner beeindruckenden Karriere geht Primoz Roglic (Red Bull – Bora – hansgrohe) bei der Tour de France an den Start. Die einzige deutsche Équipe im Peloton will von

03.07.2025Van der Poel sieht Chancen für eine erfolgreiche Tour

(rsn) – Mathieu van der Poel (Alpecin – Deceuninck) gehört einmal mehr zu den Top-Stars, die bei der Tour de France an den Start gehen. Wirklich in Erscheinung treten konnte er in den letzten dre

03.07.2025Arndt hofft nach Wirbelbruch auf Comeback noch 2025

(rsn) – Nikias Arndt (Bahrain Victorious) wird am Samstag in Lille zwar nicht am Start der Tour de France stehen, doch einige Tage vor der Frankreich-Rundfahrt gibt es dennoch gute Neuigkeiten vom 3

03.07.2025Auch bei der 112. Tour wird die 3-Kilometer-Regel ausgeweitet

(rsn) - Die ASO wird auch bei der kommenden Tour de France die 3-Kilometer-Regel auf weitere ausgewählte Etappen ausdehnen. Dann werden die Fahrer bereits vier oder sogar fünf Kilometer vor dem Ziel

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Course de Solidarnosc (2.2, POL)
  • Sibiu Tour (2.1, ROU)