Mein Radsport-Ereignis 2015

"Spartakus" zeigte Größe durch Menschlichkeit

Von Thomas Goldmann

Foto zu dem Text "
Fabian Cancellara (Trek) verletzte sich in der Saison 2015 zweimal schwer. | Foto: Cor Vos

05.12.2015  |  (rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Thomas Goldmann erklärt in seinem Beitrag, weshalb für ihn Fabian Cancellaras schwere Stürze beim E 3 Harelbeke und der Tour de France die denkwürdigsten Momente der Saison sind.

Mit dem Begriff Haaghoek können nur Radsportinsider etwas anfangen. Fabian Cancellara wird den Namen dieser Kopfsteinpflaster-Straße seit dem 25. März 2015 nicht mehr aus seinem Gedächtnis streichen können. An jenem Freitag nämlich nahm für den Schweizer eine desaströse Saison ihren Anfang. Cancellara brach sich beim Sturz auf der Haaghoek beim E3 Harelbeke zwei Lendenwirbel. Keine Flandern-Rundfahrt, kein Paris-Roubaix - die beiden wichtigsten Pavé-Klassiker des Jahres fanden ohne ihren großen Favoriten statt.

Doch der Mann mit dem martialischen Spitznamen „Spartakus“ dachte nicht ans Aufgeben. Rechtzeitig zum Start der Tour de France in Utrecht hatte Cancellara sich wieder in Form gebracht und wollte noch einmal das Gelbe Trikot erobern. Als Dritter des Auftaktzeitfahrens von Utrecht schrammte der viermalige Zeitfahrweltmeister noch knapp daran vorbei. Am folgenden Tag sollte in Zeeland dann aber die große Stunde des 34-Jährigen schlagen. Ein starker Endspurt aus einem ausgedünnten Fahrerfeld heraus bescherte Cancellara Rang drei und damit die entscheidende Zeitbonifikation, die er für das „maillot jaune“ brauchte. Der Wolf zeigte, dass er noch Zähne hat - doch die Freude währte nicht lange.

Denn bereits auf der anschließenden 3. Etappe touchierte der Franzose William Bonnet gut 55 Kilometer vor dem Ziel in Huy das Hinterrad seines Vordermannes und löste bei hoher Geschwindigkeit eine folgenschwere Kettenreaktion aus. Es waren Bilder wie auf einem Schlachtfeld, die uns an diesem Tag in Belgien erreichten – und mittendrin war Cancellara. Das Gelbe Trikot konnte nicht mehr ausweichen und schlitterte in den Straßengraben. Cancellaras gelbes Trek-Fahrrad wurde meterweit an einem Laternenmast vorbei in den Staub geschleudert.

Es grenzte an ein Wunder, dass der Berner nach diesem grauenhaften Sturz überhaupt noch auf sein Rad steigen konnte. Minutenlang stand Cancellara benommen am Straßenrand. Tour-Chef Christian Prudhomme neutralisierte das Rennen sogar, um dem Gesamtführenden und anderen gestürzten Fahrern die Chance zum Anschluss zu geben. Cancellara kam zwar mit großem Rückstand als einer der letzten Fahrer dieses Tages ins Ziel, doch sein Gesicht ließ nichts Gutes erahnen.

Er klagte über heftige Rückenschmerzen, an den Sturz bei Tempo 80 konnte er sich nicht mehr erinnern. „Ich sah den Sturz auf der rechten Seite des Feldes und hoffte, zwischen den anderen Fahrern eine Lücke zu finden. Aber erstens war dort eine Regenrinne, und zweitens wurde ich von hinten erwischt. Was dann passiert ist, weiß ich nicht“, erklärte der Trek-Kapitän.

Die Diagnose nach der Etappe war ein Schock. Wieder hatte sich Cancellara zwei Lendenwirbel gebrochen, die Tour war damit für ihn nach dem dritten Tag beendet. Nach der Zwangspause raffte sich der 34-Jährige nochmals auf und stand im August bei der Vuelta am Start. Aber auch dort blieb Cancellara das Pech treu. Ein Magendarm-Infekt bedeutete das erneute frühe Aus.

Kurz darauf gab Cancellara der Neuen Züricher Zeitung ein bemerkenswertes Interview, in dem er einen Blick hinter die Fassade eines Radprofis eröffnete. Der Druck der Schweizer Öffentlichkeit war groß, sollte der „Fabü“ doch bei den Weltmeisterschaften in Richmond den lang ersehnten Titel im Straßenrennen holen. Die Trainingspläne lagen bereit, doch Cancellara konnte nicht mehr. Der Körper sei bereit, doch der Kopf wolle nicht mehr, gab er zu Protokoll.

Die ganze Saison über hatte er um den Anschluss kämpfen müssen. Cancellara bekam Zweifel und setzte mit seinem WM-Verzicht ein menschliches Zeichen, das man sonst in der harten Welt des Profiradsports nur sehr selten sieht. Es ist traurig, zwei schwere Stürze als Radsport-Ereignis des Jahres zu präsentieren, doch die diesjährige Geschichte von Fabian Cancellara regt zum Nachdenken an.

Der neben Tom Boonen herausragende Klassikerspezialist des vergangenen Jahrzehnts gab in jenem NZZ-Interview einen Einblick in sein Gemütsleben. Cancellara war nach einer Saison mit zahlreichen Rückschlägen nicht länger bereit, alles dem Erfolg unterzuordnen. „Natürlich wäre ein WM-Titel schön für mein Palmarès. Aber mich als Menschen würde so ein Sieg nicht mehr verändern“, sagte er.

Es ist wie im richtigen Leben: Wer stürzt und nicht wieder aufsteht, wird abgehängt. Cancellara verpasste durch seine Entscheidung zwar ein mögliches Karriere-Highlight. Kein Mensch kann allerdings unendlich oft wieder aufstehen – wir sind eben keine Maschinen. In einer Radsportgesellschaft, die durch Sportwissenschaft, Trainingspläne und Wattmesssysteme immer mehr ferngesteuert wird, wagte Cancellara einen menschlichen Ausbruch, der ihn für mich sehr sympathisch macht.

Ende 2016 wird der insgesamt sechsmalige Sieger von Paris-Roubaix und der Flandern-Rundfahrt seine Laufbahn beenden - eine großartige Karriere, in der Cancellara fast alles erreicht hat, was ein Klassiker- und Zeitfahrspezialist erreichen kann. Lediglich der WM-Titel im Straßenrennen blieb ihm bislang verwehrt.

Es bleibt zu hoffen, dass der 34-Jährige 2016 nochmals an seine großen Zeiten wird anknüpfen und den neuen Klassiker-Königen wie Peter Sagan und John Degenkolb einen spannenden Kampf wird liefern können. Und wer weiß: Auch wenn der WM-Kurs in Katar flach ist, so wird sich Cancellara vielleicht noch ein letztes Mal aufrappeln und in einem möglichen Windkantenrennen am Persischen Golf allen das Hinterrad zeigen.

Weiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößern

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.12.2015Der Schock von Aldeburgh und das Happy End in Richmond

(rsn) - John Degenkolbs Sanremo-Roubaix-Double, Tony Martins lange ersehntes Gelbes Trikot, Emanuel Buchmanns überraschender DM-Sieg, Simon Geschkes Triumph in Pra Loup, André Greipels vier Etappens

23.12.2015Münsterland Giro - mein erstes deutsches Rennen

(rsn) - Es mag komisch klingen, ist aber tatsächlich wahr: Der deutsche Radsport war einst der Auslöser meines Interesses an Deutschland. Während der Tour de France 2001 hatte ich in meiner Heimats

22.12.2015John Degenkolb holt Paris-Roubaix - und das Team aufs Podium

(rsn) - Endlich. Seit der Premiere 1896 gewann kein Deutscher mehr Paris-Roubaix: Bis zum 12. April 2015. Doch was mich an diesem Tag am meisten begeisterte, war nicht die eindrucksvolle Fahrt von Joh

21.12.2015Bayern Rundfahrt: Familienbetrieb mit Herz und Verstand

(rsn) – Die Bayern-Rundfahrt 2015 war die beste aller bisherigen 36 Austragungen, wie Ewald Strohmeier nicht ohne Grund sagte. Wer den Chef des einzigen deutschen Mehretappenrennens kennt, der weiß

20.12.2015"Big mistake" im Interview mit Boonen

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Christoph Adamietz hatte in diesem Jahr bei "Rund um Köln" einen Eins

10.12.2015Ein Schutzengel namens Rudi

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Wolfgang Brylla hat ganz besonders Katusha-Sprinter Rüdiger Selig imp

06.12.2015Monumentaler Lombardei-Triumph wie aus dem Bilderbuch

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Für Guido Scholl war es der Triumph von Vincenzo Nibali (Astana) bei

03.12.2015"Simonis" großer Auftritt in Pra-Loup

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Für Lorenz Rombach steht ohne Zweifel fest: Simon Geschkes couragiert

02.12.2015Hart wie Hansen

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Daniel Brickwedde bewundert einen Marathon-Man von Down Under, dessen

01.12.2015Der "Gorilla" spielte endlich die erste Geige

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Den Anfang macht Sebastian Lindner, den die Auftritte von André Greip

Weitere Radsportnachrichten

11.09.2025Sprinterfest in der Schinkenstadt

(rsn) - Bevor die Vuelta für die Entscheidung im Gesamtklassement nochmal ins Hochgebirge abbiegt, steht ein letzter Tag für die Sprinter im Programm. Auf den 161,9 Kilometern von Salamanca nach Gu

11.09.2025Vine: “Für ein wirklich schweres Rennen ist nun alles angerichtet“

(rsn) – Nach bislang sieben Etappenerfolgen bei der Vuelta a Espana brannte das Team von UAE – Emirates – XRG auf der 18. Etappe das nächste Feuerwerk ab. Auch wenn nur neun Zehntel zum Tagess

11.09.2025Carboni von UCI vorläufig gesperrt

(rsn) – Giovanni Carboni (Unibet – Tietema Rockets) wurde vom Weltradsportverband UCI wegen auffälliger Werte im sogenannten Blutpass vorläufig gesperrt. Die ermittelten Daten stammen aus der le

11.09.2025Almeida: “Das Leben basiert auf ‘Was-Wäre-Wenns‘“

(rsn) – Im verkürzten Zeitfahren der Vuelta a Espana hat sich Filippo Ganna (Ineos Grenadiers) seinen zweiten internationalen Sieg dieser Saison gesichert. Auf der 18. Etappe war er nach 12,2 Kilom

11.09.2025Liste der ausgeschiedenen Fahrer / 18. Etappe

(rsn) - 184 Profis aus 23 Teams sind am 23. August in Turin in Norditalien zur 80. Vuelta a Espana (2.UWT) angetreten. 3151 Kilometer ist die Spanien-Rundfahrt in diesem Jahr lang, nicht weniger als

11.09.2025Ganna bejubelt nach Geduldsprobe Zeitfahrsieg vor Vine

(rsn) – Eigentlich war es eine schnelle Angelegenheit für Filippo Ganna. Nach genau 13 Minuten auf der Strecke der 18. Etappe der Vuelta a Espana war sein Arbeitstag auch schon wieder beendet. Doch

11.09.2025Bredewold springt für gestürzte Kopecky in die Bresche

(rsn) – Nach ihrem Auftaktsieg bei der Tour de l´Ardèche (2.1) hat Weltmeisterin Lotte Kopecky (SD Worx – Protime) nach einem Sturz auf der 3. Etappe die Rundfahrt vorzeitig verlassen müssen. D

11.09.2025Del Toro clever und stark: Mexikaner gewinnt Coppa Sabatini

(rsn) – Isaac Del Toro (UAE – Emirates – XRG) hat bei den italienischen Herbstklassikern weiterhin alles unter Kontrolle. Der 21-jährige Mexikaner sicherte sich in der Toskana auch die 73. Copp

11.09.2025Coquard bleibt bei Cofidis, Juul-Jensen verlängert mit Jayco

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

11.09.2025Nach Giro-Sturz: Brenner wollte Karriere beenden

(rsn) – Auch wenn er beim Giro della Toscana nicht ins Ziel kam, so ist die Tatsache, dass Marco Brenner (Tudor) erstmals nach seinem Sturz auf der 19. Etappe des Giro d’Italia wieder ein Radrenne

11.09.2025Gall hofft für die letzten Vuelta-Tage auf bessere Beine

(rsn) – Felix Gall (Decathlon – AG2R La Mondiale) gehört zu denjenigen Fahrern, die über die Verkürzung des heutigen Einzelzeitfahrens der Vuelta a Espana nicht traurig sein dürften. Auf den j

11.09.2025Pogacar äußert Verständnis für Ayusos vorzeitigen Abschied

(rsn) – Tadej Pogacar hat Verständnis für den vorzeitigen Abschied von Juan Ayuso UAE – Emirates – XRG, will sich aber offensichtlich nicht in den Disput zwischen dem Spanier und dem Team einm

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • La Vuelta Ciclista a Espana (2.UWT, ESP)
  • Radrennen Männer

  • Turul Romaniei (2.2, ROU)