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05.05.2024 | (rsn) – Fünf Jahre ist es her, dass Richard Carapaz das Radsportland Ecuador mit seinem sensationellen Gesamtsieg beim Giro d'Italia in Rosa gehüllt hat. Nun feiern die Nachbarn der Kolumbianer ihren nächsten Giro-Helden: Jhonatan Narvaez (Ineos Grenadiers). Der 27-Jährige hat gleich zum Auftakt der 107. Italien-Rundfahrt seinen großen Coup gelandet, biss sich in der letzten steilen Rampe der 1. Etappe an Top-Favorit Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) fest und schlug den Slowenen sowie Maximilian Schachmann (Bora – hansgrohe) schließlich im Drei-Mann-Sprint um den Tagessieg sowie das erste Maglia Rosa.
"Meine Frau und mein Sohn Lucas wussten, dass ich heute eine Chance auf den Sieg haben würde und deshalb hat er heute Pink getragen. Ich glaube, das wird er morgen wieder tun", sagte der überglückliche Auftaktsieger auf der Pressekonferenz nach seinem größten Triumph.
Ja, Narvaez hatte 2020 bereits nach einer epischen Etappe in Cesenatico als Ausreißer ein Giro-Teilstück für sich entschieden. "Aber das kann man unmöglich miteinander vergleichen. Es sind zwei völlig unterschiedliche Siege, zu unterschiedlichen Zeiten und auf ganz anderen Etappen", erklärte der Ecuadorianer in Turin, dass der Sprintsieg gegen Schachmann und Pogacar über allem stehe, was er bislang gewonnen habe. ___STEADY_PAYWALL___
"Es ist schön, einen starken Kerl wie Tadej Pogacar zu schlagen. Das werde ich sehr genießen! Wir wissen, dass er der stärkste Fahrer der Welt ist und ich war an seinem Hinterrad. Es war hart, dran zu bleiben, und dann musste ich meine Karten ausspielen."
2022 fuhren Richard Carapaz (Bildmitte) und Jhonatan Narvaez (links) noch für Ineos Grenadiers gemeinsam beim Giro. | Foto: Cor Vos
Narvaez stellte sich im Finale von Turin sehr geschickt an: Er biss sich bergauf bei Pogacar mit all seiner Kraft fest und nahm dem Slowenen bergab in Richtung Ziel auf den letzten drei Kilometern keine Sekunde der Führungsarbeit ab, um letztendlich im Spurt seine Power auszuspielen und zu gewinnen – so überraschend es vielleicht war, dass er in der steilen Rampe von San Vito mit dem Top-Favoriten mithalten konnte, so wenig überraschend war es, dass er ihn dann im Sprint bezwang.
Denn Narvaez ist bekannt für seine Sprintstärke, gilt als sehr starker Allrounder, der auch bei den flämischen Klassikern und anderen flacheren Rennen immer zu beachten ist. Unvergessen ist, wie der Ecuadorianer vor drei Jahren bei Kuurne-Brüssel-Kuurne 85 Kilometer vor Schluss gemeinsam mit Mathieu van der Poel attackierte, dann mutig mit dem Niederländer zusammenarbeitete und das Duo erst zwei Kilometer vor Schluss gestellt wurde. Spätestens da war klar, was für einen riesigen Motor der Ecuadorianer besitzt.
Im vergangenen Jahr gewann er drei Etappen und die Gesamtwertung der Österreich-Rundfahrt (2.1), zu Saisonbeginn 2024 wurde er Gesamtzweiter der Tour Down Under (2.UWT) und Fünfter beim Cadel Evans Great Ocean Road Race (1.UWT). Im Februar entschied er die Straßenmeisterschaften Ecuadors für sich und im März dann fuhr er beim E3 Saxo Classic (1.UWT) auf Rang sechs, gehörte zum erweiterten Favoritenkreis für die Flandern-Rundfahrt (1.UWT). Zwei Tage später aber stürzte er bei Gent-Wevelgem (1.UWT) und musste wegen einer Gehirnerschütterung pausieren.
Geraint Thomas war im Ziel einer der ersten Gratulanten. | Foto: Cor Vos
"Das Team hat sich sehr gut um mich gekümmert und mich dann nach Hause in ein Höhentrainingslager geschickt", erzählte Narvaez nun, was seither passiert sei. In der Heimat - Ecuador gilt nach Kolumbien inzwischen als zweitbedeutendste Radsportnation Südamerikas – bereitete er sich auf den Giro vor. Und nun ist der 27-Jährige Allrounder der erste Träger des Maglia Rosa 2024.
Doch auch wenn die Radsport-Fans in seiner Heimat, dem kleinen Dorf El Playón nahe der Grenze zu Kolumbien, jetzt sicher zu träumen beginnen, blieb er am Samstagnachmittag realistisch: Nachdem Carapaz in den Jahren 2019 und 2022 insgesamt 14 Tage lang das Rosa Trikot trug, ist Narvaez nun zwar der zweite Radprofi seines Landes, der das beliebte Führungstrikot überstreifen durfte. Doch mit mehr als einem Tag an der Spitze der Gesamtwertung wollte Narvaez in Turin trotz aller Siegeseuphorie nicht kalkulieren:
"Ich bin in der besten Form meiner Karriere, bin in meinen besten Jahren – aber an den großen Bergen kann ich nicht gegen Pogacar kämpfen. Es wird also schwer, das Maglia Rosa morgen zu behalten", meinte er. Die 2. Etappe endet am Sonntag nämlich mit einem solchen "großen Berg": Die letzten 11,8 Kilometer hinauf zum Santuario di Oropa steigen mit durchschnittlich 6,2 Prozent an.
So ganz schlecht aber klettert Narvaez auch nicht. Und das überrascht kaum. Immerhin stammt er aus einem Dorf, das deutlich über 2.000 Meter hoch liegt und dessen Verwaltungsgebiet sogar bis auf einige 4.000er hinaufreicht. Neben ihm kommen fast alle anderen ecuadorianischen WorldTour- oder ProSeries-Profis wie Carapaz oder Jonathan Caicedo, der dritte von drei Giro-Etappensiegern aus Ecuador, und Jefferson Cepeda, ebenfalls aus dieser Region. Sein Vater war begeisterter Radsportler, auch sein zehn Jahre älterer Bruder bestritt Rennen. Da ging für den jungen Narvaez kein Weg daran vorbei, selbst aufs Rad zu steigen und die Berge rauf und runter zu fahren.
Als Junior wurde er 2015 in Weltrekordzeit Panamerika-Meister in der Einerverfolgung auf der Bahn. 2016 heuerte er beim U23-Team Klein Constantia an, damals das Farmteam von Quick-Step. Kein Geringerer als der heutige Sportdirektor von Pogacars UAE Team Emirates, Matxin Fernandez, war zu jener Zeit der Talentscout bei den Belgiern und nach einem zweiten U23-Jahr bei Axeon Hagens Berman holte Patrick Lefevere ihn für 2018 mit einem Dreijahresvertrag in den WorldTour-Kader. Nach nur einer Saison bei Quick-Step aber lotste ihn Manager Giuseppe Acquadro zu den Ineos Grenadiers weiter, wo mehr Spanisch gesprochen wurde.
Mathieu van der Poel (Alpecin - Deceuninck) war der namhafte Begleiter von Narvaez bei Kuurne-Brüssel-Kuurne 2021. | Foto: Cor Vos
In seinen ersten drei Profijahren fuhr Narvaez hauptsächlich bergige oder hügelige Rennen und 2020 gewann er die Settimana Coppi e Bartali (2.1), bevor er in sehr guter Form zum Giro reiste und dort in Cesenatico als Ausreißer die 12. Etappe holte. Drei Tage später aber endete seine Saison mit einem Sturz auf dem Weg nach Piancavallo und zu Beginn des Jahres 2021 versuchte man bei Ineos ein neues Experiment mit dem Ecuadorianer:
Er wurde mit dem Omloop Het Nieuwsblad (1.UWT) zu seinem ersten großen Kopfsteinpflaster-Klassiker geschickt, fand sich schnell zurecht und startete tags drauf bei Kuurne-Brüssel-Kuurne (1.Pro) besagte Tandemfahrt mit van der Poel, die beinahe bis aufs Podium geführt hätte. Fortan galt Narvaez als ein weiteres Paradebeispiel dafür, dass aus Südamerika nicht nur starke Kletterer, sondern auch endschnelle Klassikerspezialisten kommen können – und diese Rennen mag er am meisten.
Voll und ganz vergessen, wie man klettert, hat er aber auch nicht. Am Sonntag nun wird Narvaez alles dafür tun, sich daran so gut es geht zu erinnern, um die Ecuadorianer ihren Traum in Rosa noch etwas länger träumen zu lassen.
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