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04.05.2024 | (rsn) – Wenn am Samstag in Venaria Reale der 107. Giro d'Italia der Männer beginnt, ist das auch für den Frauen-Radsport ein wichtiger Termin. Denn noch bevor im Juli der nächste Giro der Frauen ansteht und erstmals vom selben Veranstalter organisiert wird, wie der der Männer, feiert eine Geschichte ihr 100-jähriges Jubiläum, die einen Grundstein für den heutigen Frauen-Radsport gelegt hat: die Geschichte von Alfonsina Strada, der ersten Frau bei einer großen, dreiwöchigen Rundfahrt. Also, machen wir eine Zeitreise, 100 Jahre zurück – ins Mailand des Frühjahrs 1924:
Giro-Organisator Emilio Colombo von der Gazzetta dello Sport und seine Fahrer liegen im Streit. Vor allem die großen Rad-Stars wie Ottavio Bottecchia und Alfredo Binda fordern eine wesentliche Erhöhung der Prämien und Preisgelder, Colombo lehnt ab. Daraufhin weigern sich viele, vor allem die prominenten Fahrer, im Mai anzutreten.
Doch die Organisatoren bleiben hart, der Giro 1924 droht zu scheitern. Da hat Colombo eine Idee: Er öffnet die Rundfahrt für jedermann, nennt sie den "Giro der Erneuerung". Es gibt kaum Preisgelder, aber Kost und Logis für alle Teilnehmenden. Auch Alfonsina Strada hört von dem "neuen" Giro. Die 32-Jährige ist begeisterte Radrennfahrerin, hat bereits 36 (meist regionale) Rennen gewonnen, war zweimal bei der Lombardei-Rundfahrt dabei. Da beim Giro bisher nur Männer gefahren sind, meldet sie sich als "Alfonsin Strada" an. Die Organisatoren glauben an einen Schreibfehler, machen "Alfonsino" daraus, und registrieren Strada.
Als sie dann Anfang Mai ihre Startnummer abholt, fällt natürlich auf, dass sie kein Mann ist. Organisator Emilio Colombo tobt zunächst, erkennt aber bald, dass eine Frau gut in das Konzept "Giro der Erneuerung" passt, und lässt sie starten.
Samstag, 10. Mai 1924, 4:40 Uhr am Morgen: Start in Mailand, es geht rund 300 Kilometer nach Genua. 90 Radfahrer stehen an der Startlinie, 89 Männer und eine Frau - Alfonsina Strada, mit Startnummer 72. Zur Verpflegung hat der Giro-Tross über 750 Kilogramm Fleisch im Gepäck, dazu 600 Hähnchen, 720 Eier, 300 kg Gebäck, 120 kg Schokolade, 150 kg Früchte, Brot, Butter, Marmelade...
Strada kämpft bald gegen Müdigkeit und Schmerz - und die Anzüglichkeiten der Zuschauer am Straßenrand. Man macht sich über ihre Jungenfrisur und ihre Muskeln lustig, beschimpft sie als Wahnsinnige, nicht selten ob ihrer blanken Beine gar als puttana, als Nutte.
Auf der 2. Etappe stehen 309 Kilometer nach Florenz an. Strada kommt als 50. von noch 65 verbliebenen Teilnehmenden ins Ziel. Dann geht es nach Rom, am vierten Tag nach Neapel. Immer wieder verblüfft Strada Publikum, Presse und Organisatoren, weil sie im Zeit-Limit bleibt - und abends noch ihr Rad putzt, Schläuche flickt, die Kette ölt.
So langsam fragen sich die Leute: Wer ist diese Frau? Alfonsina Morini, so ihr Geburtsname, stammte aus einer armen Bauernfamilie in Castelfranco, in der Emilia Romagna. Ihr Vater war Tagelöhner, die Mutter Amme. Sie hatte acht Brüder, und wuchs wie ein Junge auf. Schon als kleines Kind fuhr sie mit dem Fahrrad ihres Vaters. Zu Alfonsinas zehntem Geburtstag kaufte ihr der Vater im Tausch gegen Hühner ein eigenes Rad.
Mit 13 Jahren fuhr Alfonsina Morini ihr erstes Rennen - und gewann ein Schwein. Sie siegte bald bei fast allen Mädchen- und bei vielen Jungenrennen. Im Jahr 1909, mit 18, wurde sie zum "Grand Prix" in St. Petersburg eingeladen und Zar Nikolaus überreichte ihr eine goldene Medaille. 1911 stellte sie einen Stunden-Rekord über 37,19 Kilometer auf.
Mit 24 heiratete Morini den Radsportler und Mechaniker Luigi Strada. Das junge Paar zog nach Mailand, wo Alfonsina mit tatkräftiger Unterstützung ihres Mannes auf der Radrennbahn trainierte. Sie gewann immer mehr Rennen, meist gegen Männer. Sie fuhr in Bologna und Paris, startete zweimal beim Giro di Lombardia, als er noch für alle offen war. Bald hatte sie von der Presse den respektvollen Spitznamen "diavolo in gonnella" (zu deutsch: Teufel im Rock) bekommen.
Zurück zum Giro 1924: Nach einer Woche kommen die ersten Bergetappen. An Tag acht geht's von Aquila nach Perugia. Es regnet in Strömen und die Straßen sind voller Schlamm und Steinen. Strada stürzt immer wieder, irgendwann bricht der Lenker. Sie stabilisiert ihn mit dem Stiel einer Heugabel, den ihr ein Bauer gegeben hat. So erreicht sie zwar nach fast 300 Kilometern noch das Ziel, überschreitet das Zeitlimit aber knapp. Strada wird zunächst ausgeschlossen, da sie aber bei Zuschauern und Journalisten mittlerweile durch ihren Kampfeswillen sehr beliebt ist, lässt Organisator Colombo sie weiterfahren.
Die folgenden Etappen werden immer härter: Bis zu 415 Kilometer stehen auf dem Programm. Nach der 10. Etappe von Bologna nach Fiume hat Alfonsina Strada das Zeitlimit wieder überschritten, diesmal um 25 Minuten. Doch begeisterte Zuschauer heben sie vom Rad und tragen sie unter Hurra-Rufen umher. Nach der zweiten, deutlichen Zeitüberschreitung wird sie nun zwar offiziell aus dem Rennen genommen - sie darf jedoch weiterfahren. Der enthusiastische Empfang motiviert sie, bis zum Ziel in Mailand durchzuhalten.
Auch wenn Strada immer wieder stürzt, manchmal vor Müdigkeit: Es finden sich stets Zuschauer, die ihr weiterhelfen. Am Ende der Rundfahrt hat sie die Herzen der Tifosi erobert. Und mit welcher Leistung: Nur 38 Fahrer beendeten den Giro 1924, nach zwölf Tagen und 3.613 Kilometern. Alfonsina Strada war 28 Stunden langsamer als der Sieger Giuseppe Enrici - aber immer noch 20 Stunden schneller als der offiziell Letzte, Telesforo Benaglia. Und trotz der Disqualifikation gewann sie 50.000 Lire.
Der italienische Schriftsteller Paolo Facchinetti hat über Alfonsina Strada, die am 13. September 1959 in Mailand im Alter von 68 Jahren verstarb, 2004 ein Theaterstück geschrieben, "Finisce per A" (Es endet mit A), und wenig später eine Biografie ("Gli anni ruggenti di Alfonsina Strada", die wilden Jahre der Alfonsina Strada) - letztere ist kurioserweise bisher nur ins Niederländische übersetzt worden.
Wie populär Strada in Italien heute noch ist, zeigt das Video "Alfonsina e la Bici", das ihr die römische Jazz-Band "Les Têtes de Bois" 2010 auf ihrer CD "Goodbike" gewidmet hat. Die "Championne" Alfonsina wird darin gespielt von der vielfach ausgezeichneten italienischen (2013 leider verstorbenen) Astro-Physikerin Margherita Hack. Nach den Sternen haben beide gegriffen...
Hier das Video (im Abspann ist übrigens noch ein Interview mit Alfonsina Strada im O-Ton zu hören):