Watterotts Tour-Etappenvorschau

Die Stunde der Wahrheit

Von Herbert Watterott

Foto zu dem Text "Die Stunde der Wahrheit"
| Foto: ROTH

23.07.2011  |  Samstag, 23.Juli: 20.Etappe Einzelzeitfahren in Grenoble 42,5 km

(rsn) - 24 Stunden vor der Ankunft auf den Champs-Élysées in Paris steigt heute in den Savoyer Alpen die Stunde der Wahrheit beim einzigen Einzelzeitfahren dieser Tour de France über 42,5 km. Stunde der Wahrheit in zweierlei Hinsicht: Einmal werden der Etappensieger und der beste Fahrer im einsamen Kampf gegen die Uhr ermittelt. Zum anderen fällt endgültig die Entscheidung über den Sieg bei dieser 98.Frankreich-Rundfahrt seit dem Gründerjahr 1903.

Beim langen Zeitfahren in diesem Jahr gibt es einen gravierenden Unterschied zum letzten Jahr. 2010 spielte auf der komplett flachen Strecke zwischen Bordeaux und Pauillac über 52 Kilometer der Wind eine entscheidende Rolle. Der mehrmalige Weltmeister und Olympiasieger Fabian Cancellara hatte die besten Rollerqualitäten und verwies vor einem Jahr Tony Martin aus Deutschland mit siebzehn Sekunden Vorsprung auf den zweiten Platz. Für diese knappe Niederlage will Tony Martin heute Revanche. Der 26-Jährige liegt in der Gesamtwertung auf dem 47. Rang mit 1:31:24 Stunden Rückstand und ist damit auch bester Deutscher.

Auf dem diesjährigen Rundkurs um Grenoble müssen die Rennfahrer insgesamt rund 550 Höhenmeter bewältigen – an zwei lang gezogenen Anstiegen mit 250 und 300 Metern Höhendifferenz. Das ist am Ende der Tour keine leichte Zeitfahrstrecke, die den Fahrern alles abverlangt. Vor allem das Zentralmassiv, die Pyrenäen und die Alpen haben ihre Spuren hinterlassen, dazu dann noch einige Tage mit Regen und Wind.

Wir werden ein sehr anspruchsvolles Einzelzeitfahren erleben, die Topographie bietet keinen Rollerkurs an, denn die Wellen müssen möglichst mit einem großen Gang bezwungen werden und die beiden montierten Kettenblätter vorne mir 56 und 45 Zähnen lassen auf den Abfahrten bei Tempo 60 – 70 kmh noch eine hohe Geschwindigkeit zu.

Für alle Klassementfahrer wird es noch einmal richtig hart, vor allem für Andy Schleck, den neuen Mann in Gelb. Ein Defekt oder eine Schwäche können da viele Träume zerstören.

Das Zeitfahren hat in der Historie der Tour de France schon eine 77 Jahre lange Tradition. Am 27.Juli 1934 wurde auf der 21. Etappe zwischen La Roche-sur-Yon und Nantes über 90 Kilometer das erste Zeitfahren in der Geschichte der Tour ausgetragen. Sieger war damals der Mann aus der Auvergne, Antonin Magne, der seinen französischen Landsmann Roger Lapébie um 66 Sekunden distanzierte. Dritter wurde Ludwig Geyer aus Deutschland, der seinerzeit die Tour auf dem 7. Platz in der Gesamtwertung beendete.

Das längste Zeitfahren bei der Großen Schleife durch Frankreich fand bei der 34. Tour im Jahr 1947 statt, zugleich auch die Fortsetzung der Tourgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 18. Juli 1947 gab es die Stunde der Wahrheit zwischen Vannes und St. Brieuc in der Bretagne über 139 Kilometer. Der Sieger hieß Raymond Impanis aus Belgien vor dem Franzosen Jean Robic, 4:54 Minuten zurück, der auch am Ende die Tour gewann.

Zurück in die Gegenwart. Grenoble, die Stadt der Olympischen Winterspiele 1968, steht also heute im Blickpunkt der Radsportwelt. Grenoble befindet sich mitten in den Savoyer Alpen und ist nicht nur von Bergen umgeben. Hier findet man ein wahres Paradies der Freiluftaktivitäten für Freizeit und Sport vor. Grenoble ist auch Ausgangspunkt für alle Naturliebhaber und Abenteurer.

Grenoble ist die Geburtsstadt des Schriftstellers Stendhal, der am 23.Januar 1783 unter dem eigentlichen Namen Marie-Henri Beyle, geboren wurde. Sein Pseudonym wählte er nach der Geburtsstadt des Kunstwissenschaftlers J.J. Winckelmanns, Stendal bei Magdeburg. Zu seinen berühmtesten Werken zählen die Romane „ Rouge et Noir“ (Rot und Schwarz) aus dem Jahr 1830 und „Die Kartause von Parma“ (1839). Zudem war Stendhal der Erfinder des ersten Fremdenführers. Wenn man Grenoble besucht und durchstreift, dann begreift man Stendhals berühmte Beschreibung: „ In Grenoble entdeckt man am Ende jeder Straße einen Berg.“

Man sollte sich aber auch eine Fahrt mit der städtischen Seilbahn Bastille gönnen. Hoch über Grenoble hat man einen der schönsten Ausblicke auf die französischen Alpen. Oben angekommen, wird einem klar: Grenoble, eine Stadt, in der man über sich hinauswächst.

Die Anwärter auf einen Etappensieg müssen auch über sich hinauswachsen auf dieser kniffligen Zeitfahrtstrecke. Das sind die Eckdaten. Nach dem Start in Grenoble geht es in südliche Richtung und erreicht drei Kilometer später den Ort Eybens. Nach neun Kilometern wird in Brié-en-Angonnes der erste Anstieg in 475 Metern Höhe genommen. Bei Kilometer fünfzehn kommen die Fahrer zum südlichsten Punkte der Strecke nach Vizille.

In diesem Ort ist auch der französische Rennfahrer Thierry Claveyrolat geboren. Er war siebenmaliger Teilnehmer der Tour de France und holte sich 1990 das Trikot des besten Bergfahrers. 1999 nahm er sich das Leben, nachdem er vier Wochen zuvor in einen Autounfall mit vier Schwerverletzten verwickelt war. Schon zuvor hatte der kleine Kletterer an Depressionen gelitten.

In Saint-Martin-d’Uriage nach 27,5 Kilometern erreichen die Fahrer den höchsten Punkt der Strecke mit 593 Meter über dem Meer. Danach beginnt die lange Abfahrt nach Grenoble über fünfzehn Kilometer bei 280 Metern Höhendifferenz. Das Ziel in Grenoble führt über die Avenue des Jeux Olympiques und die letzten 400 Meter auf dem Boulevard Clemenceau.

Es geht heute zunächst um den Etappensieg und dafür kommen eine Hand voll Spezialisten in Frage. Der Schotte David Millar ist ein Anwärter auf einen vorderen Platz, genauso wie Fabian Cancellara/Schweiz, der Sieger der Bayern-Rundfahrt, Geraint Thomas/Großbritannien, der Belgier Maxime Monfort, und natürlich Cadel Evans/Australien.

Die deutschen Hoffnungen ruhen auf Tony Martin, der im Juni bei der Dauphiné-Rundfahrt das Zeitfahren auf genau derselben Strecke gewann. Damals vor der Engländer Bradley Wiggins, der als härtester Konkurrent nach seinem Schlüsselbeinbruch in der ersten Woche ausfällt. Als weitere Reverenz hat Tony Martin auch den Sieg beim Einzelzeitfahren der Fernfahrt Paris-Nizza zu bieten, als er zwischen Rognes und Aix-en-Provence ebenfalls Bradley Wiggins bezwingen konnte.

Es wird in diesem Kampf gegen die Uhr auch die Tour de France entschieden. Denn der neue Träger des Gelben Trikots, Andy Schleck aus Luxemburg, hat nur 53 Sekunden Vorsprung vor seinem Bruder Frank und 57 Sekunden vor dem zweimaligen Tour-Zweiten Cadel Evans aus Australien.

Evans ist ganz klar der bessere Zeitfahrer gegenüber den Brüdern Schleck und kann die beiden noch überflügeln. Aber das Gelbe Trikot am Ende einer Rundfahrt verleiht bekanntlich Flügel. Die große Frage wird sein, wer hat nach den schweren Alpenetappen die besten Beine, und wer hat noch die meiste Kraft?

Aus dem Vierkampf von gestern wird heute nun der alles entscheidende Dreikampf zwischen Andy Schleck – Fränk Schleck – Cadel Evans.

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.07.2011Kampf ums Grüne Trikot auf den Champs-Èlysées

Sonntag, 24.Juli: 21. und letzte Etappe 95 km (rsn) - Nach genau 3333 gefahrenen Kilometern erreicht der Tour-Tross heute Nachmittag das traditionelle Endziel der 98.Tour de France auf den Champs-Ã

22.07.2011Die Würfel fallen in Alpe d’Huez

22.Juli: 19.Etappe Modane Valfréjus – Alpe d’Huez 109,5 km (rsn) - Mit Sicherheit erleben wir drei Tage vor dem Ende dieser Tour die interessanteste und spektakulärste Etappe von Modane Valfr

21.07.2011Der Galibier: Höchstes Ziel aller Zeiten

21.Juli: 18.Etappe Pinerolo – Galibier Serre-Chevalier 200,5 km (rsn) - Heute steht die Königsetappe dieser Tour de France auf dem Programm. Nachdem es vorgestern am Galibier noch einen plöt

20.07.2011Eine Strecke für bergfeste Abfahrtsspezialisten

20.Juli: 17.Etappe Gap – Pinerolo 179 km (rsn) - Über die heutige Etappe könnte man sowohl in sportlicher als auch in geschichtlicher Hinsicht ein kleines Taschenbuch schreiben. Denn zwischen

19.07.2011Ein Tag voller Überraschungen

19.Juli: 16.Etappe Saint-Paul-Trois-Châteaux - Gap 162,5 km(rsn) - Gut zwei Wochen sind die Fahrer der Tour de France seit dem Start am 2.Juli in der Vendée am Atlantik nun schon unterwegs und ha

17.07.2011Schlägt heute erneut Greipels große Stunde?

17.Juli: 15.Etappe Limoux – Montpellier 192,5 km (rsn) - Nach den drei schweren Pyrenäen-Etappen zwischen Cugnaux bei Toulouse und Plateau de Beille, die von den Kletterspezialisten und Favoriten

15.07.2011Die Gelegenheit für kletterfeste Ausreißer

15.Juli: 13.Etappe Pau – Lourdes 152,5 km (rsn) - Genau wie auf der gestrigen ersten Pyrenäen-Etappe mit dem Col du Tourmalet (2.115 m über dem Meer) ein Berg der höchsten Kategorie auf dem Pro

14.07.2011Heute Ziel in Luz Adiden - wo Ullrich die Tour verlor

(rsn) - Eines steht vor schon vor dem Start dieser ersten Pyrenäen-Etappe fest: Es wird nicht nach Sekunden, sondern nach Minuten gerechnet werden. Am Ziel in Luz-Ardiden wird es ein völlig neues G

12.07.2011Heiße Etappe nach dem ersten Ruhetag

(rsn) - Nach genau 1.581 Kilometern  auf dem Rennrad zwischen dem Start in der Vendée am Atlantik, nach zahlreichen Pressekonferenzen am Ruhetag gestern im herrlichen Sommer- und Wintersportparadies

10.07.2011Spektakulärer Schlusspunkt der ersten Woche

(rsn) - Gestern gab es in Super- Besse Sancy einen ersten Vorgeschmack auf das, was die Fahrer am heutigen neunten Tour-Tag erwartet. Im Regen gab es den Etappensieg des Portugiesen Rui Costa (Movista

09.07.2011Feuerwerk in Super-Besse

9.Juli: 8.Etappe Aigurande – Super-Besse Sancy 189km (rsn) - Nach sieben Etappen ohne extreme topographische Hindernisse steht heute die erste Bergankunft dieser Tour de France auf dem Programm. Sc

07.07.2011Wer siegt an Zabels Geburtstag?

7.Juli: 6.Etappe Dinan - Lisieux 226,5 km(rsn) - Der sechste Tagesabschnitt führt von der Bretagne in die Normandie und ist mit 226,5 km zugleich die längste Etappe dieser 98.Tour de France. Die S

Weitere Radsportnachrichten

13.10.2025Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir über die w

13.10.2025Balsamo als Topfavoritin nach China

(rsn) – Die Tour of Chongming Island (2.WWT) bildet den Abschluss der Women’s WorldTour 2025. Drei Tage lang findet das Rennen auf der zweitgrößten chinesischen Insel vor den Toren Shanghais st

13.10.2025Nicolas Vinokurov verlängert bei XDS - Astana

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

13.10.2025Saisonfinale im Fernen Osten: Sprint-Chancen und ein “Scharfrichter“

(rsn) – Die Tour of Guangxi bildet vom 14. bis 19. Oktober das Saisonfinale der UCI WorldTour 2025. Auf den sechs Etappen der chinesischen Rundfahrt werden 1019,9 Kilometer zwischen Fangchenggang un

13.10.2025Seltene Niederlage: Pogacar verliert gegen Amateur

(rsn) – Tadej Pogacar hat am Sonntag eine seltene Niederlage einstecken müssen – und das ausgerechnet bei seiner eigenen Veranstaltung. Bei der "Pogi Challenge" in Slowenien musste sich

13.10.2025Tour of Chongming Island im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(ran) - Bereits seit 2007 steht die Tour of Chongming Island im Rennkalender der Frauen und zählt seit 2016 zur Women´s World Tour. Die Rundfahrt führt über drei Etappen und kam zumeist den Sprin

13.10.2025Grande Partenza 2026 in Bulgarien

(rsn) – Der Giro d’Italia 2026 wird in Bulgarien beginnen. Dies bestätigte der Präsident der Organisation RCS Urbano Cairo beim Festival dello Sport in Trentino. Das bedeutet, dass die Italien-

13.10.2025Tour of Guangxi im Rückblick: Die ersten neun Jahre

(rsn) - Die erstmals 2017 ausgetragene Tour of Guangxi ist seitdem das letzte WorldTour-Rennen der Saison. Die sechstägige Rundfahrt wird in der autonomen Region Guangxi im Süden Chinas ausgetragen

12.10.2025Biesterbos überrascht bei der Gravel-WM

(rsn) - Nicht zum ersten Mal in dieser Saison bringt ein Fahrer eines Teams außerhalb der WorldTour die Profis der Topliga des Radsports beim Kampf um einen Meistertitel ins Schwitzen. Nachdem in Ita

12.10.2025“Im Finale waren wir vielleicht ein bisschen dumm“

(rsn) – Bis eine Minute vor der endgültigen Entscheidung von Paris-Tours (1.UWT) hatte die Grande Nation noch fest daran glauben können, dass nach dem Vorjahressieg von Christoph Laporte (Visma â

12.10.2025Philipsen: “Mit diesen Jungs auf dem Podium zu sein, ist ein Privileg“

(rsn) – Matteo Trentin (Tudor) hat die 119. Auflage von Paris–Tours (1.Pro) im Sprint einer sechsköpfigen Spitzengruppe gewonnen und damit seinen dritten Sieg beim französischen Herbstklassiker

12.10.2025Trentin gewinnt auch die zweite Version von Paris-Tours

(rsn) – Matteo Trentin (Tudor) hat mit Paris-Tours (1.Pro) den letzten großen Herbstklassiker auf europäischer Bühne im Zielsprint einer Sechsergruppe für sich entschieden. Das traditionsreiche

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour de Kyushu (2.1, JPN)