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14.07.2011 | (rsn) - Eines steht vor schon vor dem Start dieser ersten Pyrenäen-Etappe fest: Es wird nicht nach Sekunden, sondern nach Minuten gerechnet werden. Am Ziel in Luz-Ardiden wird es ein völlig neues Gesamtklassement geben, fast sicher mit einem neuen Träger des Gelben Trikots, denn die Favoriten wie Cadel Evans, und die Gebrüder Andy und Frank Schleck sitzen Thomas Voeckler, dem Mann in Gelb, im Nacken. Und auch Titelverteidiger Alberto Contador wird angesichts seines schon recht deutlichen Rückstands wohl in die Offensive gehen.
Die Fahrer müssen eine Etappe bestreiten, die im zweiten Teil mit drei Bergen der 1.Kategorie und der Ehren-Kategorie (Hors-Kategorie/HC) bestückt ist.Also ein superschweres Programm, das deutlich die Spreu vom Weizen trennen wird. Die Streckenführung verläuft in südwestlicher Richtung und berührt die Departements Haute-Garonne, Gers und Haute-Pyrénées.
Der neutralisierte Start erfolgt um 11.10 Uhr in Cugnaux, das noch nie im Streckenprofil der Tour de France auftauchte. Über sechs Stunden harte Arbeit wartet auf die Fahrer. Der Ort Cugnaux liegt elf Kilometer südlich von Toulouse, die rosarote Stadt genannt, weil zahlreiche Gebäuden aus rotem Ziegelstein bestehen. Cugnaux ist ein lebendiger Ort mit über 50 kulturellen Terminen, wie Musikfestivals, Kunstausstellungen sowie Zirkus- und Theatervorstellungen.
Aber in Erinnerung bleibt eines der unzähligen Schicksale der Tour, das hier begann und in Luz-Ardiden endete. 1985 war Bernard Hinault drei Tage zuvor im Gelben Trikot gestürzt und erlebte den schmerzhaftesten Leidensweg seiner Karriere durch die Pyrenäen. Am Ziel in Luz-Ardiden, das in dem Jahr zum ersten Mal im Tourprogramm auftauchte, verlor der Bretone über vier Minuten auf den Tagessieger Pedro Delgado aus Spanien, triumphierte aber am Ende doch zum fünften Mal als Tour-Sieger. Das war übrigens der letzte Sieg eines Franzosen bei der Tour, und das ist schon 26 Jahre her - ein „Leidensweg“ für die Radsportfans in unserem Nachbarland.
Heute ist der französische Nationalfeiertag, und die einheimischen Fahrer werden vom ersten Kilometer an angreifen.
Bei Kilometer 119 gibt es in der mittelalterlichen Ortschaft Sarrancolin den einzigen Zwischensprint mit Punktvergabe. Bevor die Berge kommen, sind die Sprinter noch frisch, und Mark Cavendish, der das Grüne Trikot schon 2009 an acht Tagen trug, wird mit seinem bisher optimal funktionierenden HTC-Highroad-Zug versuchen, den Punktevorsprung auf den Spanier Rojas und Philippe Gilbert aus Belgien auszubauen.
22 Kilometer später muss ein Berg bezwungen werden, der bei der Tour noch nie auf dem Programm stand, der La Hourquette d’Ancizan, ein Ableger des Col d’Aspin, 1.Kategorie und 1.538 Meter hoch. Der Anstieg ist 10,5 Kilometer lang, mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,5%. Die steilste Passage kommt bereits nach zwei Kilometer Anstieg mit 9,4%. Dieses Hindernis ist der erste „Scharfrichter“ des Tages. Hourquette ist übrigens ein weiblicher Name aus der Gascogne und bedeutet Gabel.
Eine Empfehlung für Hobbyfahrer: Den La Hourquette d’Ancizan kann man mit dem Col d’Azet und dem Col d’Aspin zu einer 74 km langen Runde mit rund 2.400 Höhenmeter verbinden. Da sind die Kletterfreunde in ihrem Element.
Nach der 17 Kilometer langen Abfahrt erreicht das Feld oder besser gesagt die Gruppe der Kletter-Asse den Ort Sainte-Marie de Campan, in dem man ein wunderschönes Puppenmuseum besuchen kann. Hier spielte sich 1913 eine unglaubliche Geschichte ab.
Auf dem Tourmalet hatte der Franzose Eugène Christophe 18 Minuten Vorsprung und eine gute Chance auf Gelb. Dann erlitt er auf der Abfahrt einen Gabelbruch, Weiterfahrt unmöglich. Christophe trabte mit geschultertem Rad 14 schier endlose Kilometer die Serpentinen hinab, bis zu einer Schmiede in Sainte-Marie de Campan. Damals gab es noch keine Ersatzräder, geschweige denn Ersatzteile. In der Schmiede machte er sich daran, die Gabel wieder zusammen zu flicken.
Damals war den Fahrern jede fremde Hilfe verboten. Doch ein Lehrling musste ihm helfen, den Blasebalg bedienen, sonst hätte die Schmiede nicht funktioniert. Drei Kommissäre der Rennleitung sahen das, und Christophe bekam eine Strafminute aufgebrummt.
Mit 3 Stunden und 50 Minuten Rückstand fuhr der Franzose nach 326 Kilometern und 16 Stunden 30 Minuten Fahrzeit noch als 29. durchs Ziel in Luchon. Das waren Zeiten. In Sainte-Marie de Campan beginnt dann auch der Aufstieg zum Col du Tourmalet, mit der Passhöhe 2.115 Meter über dem Meer. Dort oben befindet sich auch ein Gedenkstein für Jacques Goddet, den langjährigen Direktor der Tour de France (von 1947 bis 1986). Bei der Anfahrt von der schwereren Ostseite sind 17 Kilometer mit einer maximalen Steigung von 10% an zwei Stellen zu bewältigen. Im Durchschnitt sind es 7.3%. Wieder wird das Feld in zahlreiche Einzelteile auseinander fallen und zersplittern wie eine Glasscheibe.
Der Col du Tourmalet (bedeutet auf altfranzösich „schlechte Wegstrecke“), wurde im Jahre 1910 auf Anregung des Luxemburgers Alphonse Steines als erster Hochgebirgspass in das Programm der Tour aufgenommen. Damals führte nur ein schmaler Pfad über den Pass, zudem gab es in den Pyrenäen wilde Bären. Bei der Inspektion der Gegend wäre Steines fast ums Leben gekommen, telegrafierte nach seiner Rettung im Schnee durch einheimische Hirten, an seinen Vorgesetzten und Tourdirektor Henri Desgrange mit den fast legendären Worten: “Bin gut über den Tourmalet gekommen. Stopp. Straße in gutem Zustand. Stopp. Keine Schwierigkeiten für die Fahrer.“
Das war nur die halbe Wahrheit, denn dass die Passüberquerung erst mit einem Kostenaufwand von 50.000 Francs ermöglicht werden konnte, verschwieg er Henri Desgrange, der als erster Radsprofi einen Stundenweltrekord aufstellte.
Über den Wintersportort La Mongie, wo es bisher dreimal eine Ankunft gab (1970-Bernard Thevenet, 2002-Lance Armstrong und 2004-Ivan Basso), erreichen die Fahrer den Tourmalet, der zugleich als Souvenir Jacques Goddet ausgeschrieben ist, zu Ehren des früheren Journalisten und Tourdirektors. Der Spitzenreiter auf der Passhöhe erhält eine Extra-Prämie von 5.000 Euro.
Nach 175 Kilometern erreichen die Fahrer den Kulminationspunkt, wo seit 1910 berühmte Fahrer als Erste oben waren. Ein illustre Namensliste von Tour de France-Legenden: Octave Lapize, Ottavio Bottecchia, Sylvère Maes, Gino Bartali, Jean Robic, Fausto Coppi, Federico Bahamontes, Lucien Van Impe, Julio Jimenez, Claudio Chiappucci, Tony Rominger, Richard Virenque, Christophe Moreau und Andy Schleck, der Tour-Zweite des vergangenen Jahres.
Am französischen Nationalfeiertag steht also die 77.Überquerung des Tourmalet an, nicht nur der älteste, sondern auch der am häufigsten befahrene Hochgebirgspass der Tour de France.
Natürlich gibt es oben wieder wertvolle Punkte im Kampf um das Bergtrikot, und dann beginnt die kurvenreiche, 18 Kilometer lange und steile Abfahrt nach Barèges, teilweise mit einer Geschwindigkeit von bis zu 110 km/h, nach Luz-Saint-Sauveur, wo sofort der Anstieg zum Tagesziel nach Luz-Ardiden beginnt, dass seit 2003 nicht mehr im Streckenplan stand.
Wichtig zu wissen ist, dass es nach der Abfahrt mit höchster Konzentration, keine Ruhephase, keinen Meter Erholung gibt. Sofort müssen die Fahrer den richtigen Tritt und Rhythmus finden, um den langen Anstieg nach Luz-Ardiden erfolgreich zu bewältigen.
Dieses Skigebiet wurde 1974 errichtet und elf Jahre später machte die Tour erstmals Station. Die 13,4 Kilometer lange Strecke weist bei einem Steigungsdurchschnitt von 7,4% (maximal 10%) einen Höhenunterschied von 1.036 Meter auf und wird „das Kurvenlabyrinth“ oder auch der Berg der Spanier genannt. Denn von bislang sieben Tour-Etappen, die hier endeten, wurden vier von Spaniern gewonnen. Pedro Delgado, Laudelino Cubino, Miguel Indurain und Roberto Laiseka, außerdem siegreich der Norweger Dag-Otto Lauritzen, am Nationalfeiertag, 14.Juli 1987, dann der Franzose Richard Virenque und zuletzt vor acht Jahren Lance Armstrong.
2003 war die 15.Etappe mitentscheidend für den Ausgang 90. Tour de France. Der angeschlagene Armstrong führte nach seiner Niederlage im Einzelzeitfahren in Cap’ Découverte drei Tage zuvor, nur noch mit nur 15 Sekunden Vorsprung in der Gesamtwertung vor Jan Ullrich, als sich der rechte Bremshebel an einer Tasche eines Zuschauers verfing und der Texaner stürzte. Mit ihm ging der hinter ihm fahrende Baske Iban Mayo zu Boden. Jan Ullrich, an dritter Stelle fahrend, konnte im letzten Moment mit einem Schlenker ausweichen und nutze die Situation nicht aus, wartete auf Armstrong, wie dieser zwei Jahre zuvor in einer ähnlichen Situation, als Ullrich einen Abhang hinab stürzte, aber unverletzt das Rennen fortsetzen konnte.
Auch Lance Armstrong rappelte sich auf, rutschte danach noch aus dem Pedal und gewann am Ende nicht nur in Luz-Ardiden, sondern auch seine fünfte Tour de France.
Zum achten Mal also kommen die Fahrer nach Luz-Ardiden in 1.715 m Höhe, das Finale ist schwer von unten bis oben. Es gibt keine einzige Stelle, an der man sich für einen Moment ausruhen könnte. Luz-Ardiden bedeutet wieder Hors-Kategorie, also höchste Schwierigkeitsmerkmale. In diese Kategorie werden Berge eingestuft, deren Anstiege besonders lang und steil sowie mit hohen Steigungsprozenten ausgestattet sind.
Wer diese Etappe gewinnt, geht sicher in die Geschichtsbücher der Tour de France ein. Die Gesamtwertung wird völlig neue Konturen bekommen und die Abstände unter den einzelnen Fahrern werden sich vergrößern.
Die Abgeschlagenen werden sich am Fuß der Schlusssteigung nach Luz-Ardiden, rund 13 Kilometer vor dem Ziel, versammeln und gemeinsam das letzte Stück zu bestreiten. Immer im Hinterkopf: der drohende Ausschluss, wenn man nicht in der für diese schwere Etappe vorgeschriebenen Karenzzeit im Ziel ist.
Es ist noch ein weiter Weg bis nach Paris zum Gesamtsieg in der französischen Metropole bei dieser 98.Tour de France. Aber auch die Rückkehr vom Berg ins Tal nach Luz-Saint-Sauveur wird für die Zuschauer Stunden dauern und sich bis nach Mitternacht hinziehen.
Wenn der letzte Fahrer im Ziel ist, werden die Profis und die Pressefahrzeuge, begleitet von der französischen Motorradstaffel mit Priorität ins Tal eskortiert, vorbei an den wartenden Radsportfans.
Denn es wartet noch eine lange Fahrt zu den Hotels der Mannschaften in der Umgebung von Pau, wo morgen die 13.Etappe mit dem legendären Col d’Aubisque in 1705 m Höhe, über 152,5 Kilometer zum Wallfahrtsort Lourdes gestartet wird.
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