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17.04.2022 | (rsn) – Nach einem 19 Kilometer langen Solo konnte Dylan van Baarle (Ineos Grenadiers) bei der 119. Ausgabe von Paris-Roubaix seinen ersten Sieg in einem Monument feiern. Der Niederländer setzte sich aus einer Spitzengruppe ab und gewann mit 1:47 Minuten Vorsprung auf vier Verfolger, von denen sich im Sprint Wout Van Aert (Jumbo – Visma) Rang zwei vor Stefan Küng (Groupama – FDJ) sicherte. Auf den nächsten Plätzen kamen Tom Devriendt (Intermarché – Wanty – Gobert) und Matej Mohoric (Bahrain Victorious) ins Ziel.
Im vergangenen Herbst erreichte van Baarle das Velodrom erst nach Toresschluss. Ein halbes Jahr später war er der Erste, der in das Oval einbog. “Ich konnte es nicht glauben, als ich ins Velodrom kam. Ich habe noch auf die andere Seite geguckt, aber ich war ganz allein. Es ist vollkommen verrückt“, so der 29-Jährige, der sowohl bei der Flandern-Rundfahrt 2022 als auch bei der letztjährigen Weltmeisterschaft in Flandern Zweiter geworden war.
Paris-Roubaix übertraf seinen bisher größten Sieg ab: Im vergangenen Jahr gewann er in ähnlicher Manier wie am Sonntag Dwars door Vlaanderen. Der Südholländer ist nicht explosiv, besitzt aber einen langen Atem. “Wir wollten das Rennen vor der zweiten Verpflegung schwer machen“, verriet der Sieger. So übernahm seine Mannschaft schon früh die Verantwortung. “Die Windkante war nicht geplant. Aber wir waren vom Start weg sehr konzentriert und das hat sich so ergeben“, blickte er auf eine Zweiteilung des Feldes 210 Kilometer vor dem Ziel zurück.
Ineos feierte den vierten großen Sieg binnen acht Tagen
Viele Favoriten wie Van Aert, Küng und Mathieu van der Poel (Alpecin – Fenix) hatten den Sprung ins erste Feld verpasst. “Von dem Moment an wusste ich, dass ich eine gute Chance hatte. Wir haben weniger Kraft verbraucht als der Rest. Mein Team wollte für mich fahren und es war sehr stark - das hat mir viel Vertrauen gegeben“, erzählte van Baarle. “Ich kann ihm nicht genug danken. Wir sind eine tolle Klassikerkampagne gefahren“, fügte er an. Ineos reiht zurzeit Erfolg an Erfolg. Nach dem Amstel Gold Race, der Baskenland-Rundfahrt und dem Pfeil von Brabant feierte die Mannschaft in Roubaix den vierten großen Sieg in acht Tagen.
19 Kilometer vor dem Ziel setzte van Baarle die entscheidende Attacke und holte sich den größten Sieg seiner Karriere | Foto: Cor Vos
Van Aert hatte bei seinem Comeback nach seiner Corona-Erkrankung das erste Feld verpasst. Der Belgische Meister kam erst 110 Kilometer später kurz vor der Trouée d’Arenberg wieder zum ersten Teil des Pelotons. Danach wurde schnell deutlich, dass seine Aussagen vor dem Rennen Tiefstapelei gewesen waren. “Ich hatte eine freie Rolle, aber wir mussten abwarten, was passiert“, gab er gegenüber Sporza zu. “Ich hatte bessere Beine als erwartet. Ich bin selbst enorm überrascht und glücklich, dass ich mit dem zweiten Platz belohnt wurde“, zeigte er sich zufrieden.
Van Aert erst im Sprint unterlegen war Küng, der zunächst ebenfalls im zweiten Feld feststeckte. “Ich musste nach 50 Kilometern pinkeln. Danach war ich ganz hinten und als ich nach vorne schaute, war da eine große Gruppe weit vorne. Aber ja, es ist ein großes Rennen und ich wusste, wir können nur gemeinsam wieder zusammenkommen“, so der Schweizer, der wie van der Poel seine Mannschaft lange Tempo fahren ließ. Dank einer starken Vorstellung schaffte er kurz nach dem Zusammenschluss den Sprung in die entscheidende Gruppe, nur van Baarle konnte er nicht folgen. “Es war das Maximale, was ich rausholen konnte. Gegen Wout kann ich im Sprint nichts ausrichten“, zeigte Küng sich über seine Podiumsplatzierung zufrieden.
Van der Poel mit Hängen und Würgen auf Rang neun
Topfavorit van der Poel hatte keinen guten Tag. “Es ging mit Hängen und Würgen und ich hatte nicht die Beine, auf die ich gehofft hatte“, erzählte der Niederländer. Schon nach 50 Kilometern geriet er bei der Windkantensituation ins Hintertreffen. “Ich war hinten und hatte nicht das Gefühl, dass wir auf die Kante gingen. Aber plötzlich war die Hälfte des Feldes weg“, erinnerte sich der Sieger der Flandern-Rundfahrt. Trotzdem blickte er positiv auf sein Frühjahr zurück, das durch eine Rückenverletzung gefährdet war. “Alles, was ich danach fahren konnte, war Bonus. Ich hatte auf ein schönes Roubaix gehofft, aber insgesamt bin ich mit meiner Bilanz zufrieden“, schloss van der Poel.
Auf dem letzten Kopfsteinpflastersektor stürzte Yves Lampaert (Quick-Step Alpha Vinyl) auf Podiumskurs liegend nach einem Zusammenprall mit einem Zuschauer. “Ich wollte die Kurve anschneiden, aber anstatt, dass der Mann einen Schritt nach hinten machte, ging er nach vorn. Er schlug mir gegen den Arm und ich verlor die Kontrolle“, schilderte der Flame seinen Crash, bei dem er zunächst schlingerte, dann hoch über seinen Lenker flog und unsanft mit dem Rücken auf dem Pflaster landete. Er konnte das Rennen fortsetzen und auf Position zehn beenden. Trotzdem kochte Lampaert im Ziel noch vor Wut. “Ich kann nicht mehr sagen, als dass das ein Kalb ist. Bleib zu Hause, wenn du keine Ahnung von Radrennen hast“, schimpfte er im Sporza-Interview.
Das Podium des 119. Paris-Roubaix, v.l.: Wout Van Aert, Dylan van Baarle, Stefan Küng. | Foto: Cor Vos
Nur knapp am Podium vorbei fuhr nach einer sensationellen Leistung Devriendt. “Ich hätte nie gedacht, dass ich das heute so hinbekommen würde. Das war für mich ganz sicher kein Tag in der Hölle“, freute sich der Belgier nach dem Rennen über seinen vierten Platz in der "Hölle des Nordens". Rund 100 Kilometer vor dem Ziel setzte er sich mit unter anderem mit Mohoric vom Feld ab. “Unsere Attacke vor der Trouée d’Arenberg war der ideale Moment“, so der 30-Jährige. Mit dem Sieger von Mailand-Sanremo war er in ständiger Diskussion. “Mohoric wollte immer schneller fahren. Er wollt auch, dass ich schneller fahre, aber ich wollte ein gleichmäßiges Tempo fahren“, erläuterte der erfahrene Helfer. “Ich fahre immer im Dienst von anderen, doch heute kam ich in die Situation, dass ich für mich selbst fahren konnte“, strahlte Devriendt.
Die Deutschen zeigten sich vor allem im ersten Teil des Rennens stark. Jannik Steimle (Quick-Step Alpha Vinyl) war nach dem Bruch im Feld einer der Motoren in der ersten Gruppe. Nils Politt (Bora – hansgrohe) versuchte erfolglos mit Connor Swift (Arkea – Samsic) die Attacke von Mohoric und Devriendt zu kontern und wurde letztendlich 22. Bester Deutscher war John Degenkolb (DSM), der wie sein Teamkollege Nikias Arndt kurzzeitig in einer Verfolgergruppe fuhr, auf Rang 18.
So lief das Rennen:Bei Sonnenschein und auf trockenen Straßen nahmen 25 Teams in Compiegne das Rennen am Vormittag in Angriff. Nach nur 20 Kilometern musste Debütant Pascal Ackermann (UAE Team Emirates) bereits vom Rad steigen. In der frühen Phase folgte Attacke auf Attacke, ehe sich nach knapp 50 Kilometern das Geschehen zuspitzte.
Verantwortlich dafür war Inoes Grenadiers, das auf der Windkante in die Offensive ging und das Feld in zwei Teile sprengte. Initiiert von allen sieben Ineos-Fahrern, bildete sich bei hohem Tempo eine 75-köpfige Gruppe, in der allerdings große Namen wie van der Poel, Van Aert, Küng, Mads Pedersen, Jasper Stuyven (beide Trek – Segafredo), Kasper Asgreen (Quick-Step Alpha Vinyl), Alexander Kristoff (Intermarché - Wanty - Gobert) und Degenkolb nicht dabei waren.
Bis zum ersten der 30 Sektoren nach gut 100 gefahrenen Kilometern hatte das erste Feld seinen Vorsprung auf rund 1:20 Minuten ausgebaut. Der schrumpfte dann aber zusammen, weil Filippo Ganna (Ineos Grenadiers) auf Sektor 28 durch einen Platten gestoppt wurde und eine Aufholjagd starten musste. Um die zu ermöglichen, reduzierten seine Teamkollegen an der Spitze das Tempo. Als Ganna den Anschluss wieder geschafft hatte, sorgte ein kapitaler Sturz auf dem Sekrot in Saint-Python für Chaos an der Spitze. Rund 20 Fahrer lagen am Boden, darunter auch van Baarle. Dennoch schaffte es das zweite Feld zunächst nicht, die Lücke zu schließen.
Ineos bringt van der Poel in Nöte
Die Situation nutzte Niki Terpsta (TotalEnergies) aus, doch die Attacke des Roubaix-Siegers von 2014 wurde nach einer kurzen Soloflucht wieder gestellt. Zwar war die Spitzengruppe in Folge des Massensturzes deutlich geschrumpft, ihr Vorsprung auf die Verfolger um van der Poel und Van Aert näherte sich zur Rennhälfte allerdings der Zwei-Minuten-Marke an. Zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Rennen war Ackermanns Teamkollege Felix Groß, der nach einem Sturz mit Verdacht auf Armbruch ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Im Sektor 24 zog Jens Reynders (Sport Vlaanderen) aus der Spitzengruppe davon, während im Feld Alpecin - Fenix und Groupama - FDJ das Tempo erhöhten. Zeitgleich wurde Ganna durch einen weiteren Defekt gestoppt, so dass Ineos vorn zeitweise nur noch durch Ben Turner und van Baarle vertreten war, wogegen Quick-Step mit Florian Senechal, Jannik Steimle, Yves Lampaert und Davide Ballerini die stärkste Fraktion stellte. Der 23-jährige Reynders wurde dann aber durch einen Vorderradplatten aufgehalten und büßte seinen Maximalvorsprung von 40 Sekunden durch den Wechsel wieder ein.
Als siebter Niederländer und erster Fahrer von Ineos Grenadiers wurde van Baarle mit dem berühmten Pflasterstein geehrt. | Foto: Cor Vos
In den ersten drei Stunden waren die Fahrer mit einem Schnitt von 46,9 km/h unterwegs und hatten damit den Rekord von 2017 (45,204 km/h) deutlich überboten. Auch wenn in den folgenden Stunden das Tempo etwas sank, wurde am Ende doch mit 45,792 km/h im Schnitt das schnellste Paris-Roubaix aller Zeiten notiert.
In der Anfahrt zum Wald von Arenberg, dem ersten der drei 5-Sterne-Sektoren, formierte sich eine neue Spitzengruppe mit Ballerini, Mohoric, Devriendt, Casper Pedersen (DSM) und Laurent Pichot (Arkéa - Samsic).
80 Kilometer vor dem Ziel bannten Groupama und Alpecin die Gefahr
105 Kilometer vor dem Ziel schaffte das zweite Feld nach einer Verfolgungsjagd über mehr als 100 Kilometer schließlich den Anschluss an die ursprünglich von van Baarles Helfern initiierte Gruppe, aus der kurz zuvor Politt und Swift davongezogen waren. In dem 2.300 Meter langen legendären Sektor verlor Ballerini nach einem Defekt den Anschluss an seine Begleiter, kurz darauf fiel auch Pedersen zurück.
Im Feld versuchten es wenig später Küng und Ganna mit Attacken, kamen aber gemeinsam mit anderen Fahrern nicht weg. Dagegen hatte Van Aert im Wald von Arenberg Probleme und jagte in einer abgehängten Gruppe aus dem Sektor heraus. Obwohl er auch noch durch einen Radwechsel aufgehalten wurde, kämpfte sich der Belgische Meister wieder in das Hauptfeld zurück.
Zu Beginn des nach Degenkolb benannten Sektors 17 in Hornaing à Wandignies hatte das Führungstrio seinen Vorsprung auf rund zwei Minuten ausgebaut. Das von Groupama - FDJ angeführte Feld hatte mittlerweile fast alle weiteren Ausreißer eingesammelt und war 80 Kilometer vor dem Ziel wieder auf rund 80 Fahrer angewachsen.
Van Baarle eröffnet 50 Kilometer vor dem Ziel
Kurz darauf attackierte Stefan Bissegger (EF Education - EasyPost) und bildete mit Ballerini, Swift und Pedersen die erste Verfolgergruppe, wogegen im Feld nach einem Defekt von Küng Groupama für die Tempoarbeit ausfiel. Dennoch wurde das Quartett um Bissegger 67 Kilometer vor dem Ziel eingefangen. Unter der Tempoarbeit von Ineos Grenadiers blieb der Abstand zur Spitze zunächst unverändert bei rund zwei Minuten - erst als Van Aerts Helfer Nathan Van Hooydonck zu Beginn des Sektors 13 das Kommando übernahm, schrumpfte der Rückstand schnell um 30 Sekunden zusammen.
Aus der dadurch entstandenen Favoritengruppe löste sich van Baarle auf den letzten 50 Kilometern und machte sich solo auf die Verfolgung des Spitzentrios, das nach wie vor gut harmonierte. Es war dann van der Poel, der kurz zuvor bei einem Sturz noch kurz aufgehalten worden war, der mit seiner Tempobeschleunigung die Gruppe weiter reduzierte, ehe Van Aert im Sektor 11 - Mons-en-Pévèle - 45 Kilometer vor dem Ziel entschlossen attackierte und mit van der Poel und Küng im Schlepptau zunächst van Baarle und dann den aus der Spitzengruppe zurückgefallenen Pichot stellte.
Van Aert und Mohoric fast zeitgleich durch Defekte gestoppt
Zunächst wurde dann aber Van Aert durch einen Defekt zum Radwechsel gezwungen, kurz darauf ereilte Mohoric an der Spitze das gleiche Schicksal, so dass Devriendt sich allein vorne fand. 30 Sekunden dahinter folgte die auf wieder zehn Fahrer angewachsene Gruppe um van der Poel, Küng und Van Aert, in der mit Adrien Petit ein weiterer Intermarché-Fahrer mitmischte. Hinzu kamen van Baarle, Turner, Pichon, Lampaert, Mohoric sowie Stuyven.
Bester deutscher Profi war John Degenkolb (DSM). Der Gewinner der Ausgabe von 2015 landete diesmal auf Rang 18. | Foto: Cor Vos
Nach einer vergeblichen Attacke Van Aerts sprangen Lampaert und Mohoric 28 Kilometer vor dem Ziel zu Devriendt vor, van Baarle schaffte im Sektor 5 den Anschluss, wogegen die weiteren Verfolger sich einen Rückstand von mehr als 30 Sekunden einhandelten. Auf Initiative von Geburtstagskind Stuyven, der kurz darauf nach einem Defekt allerdings das Rad wechseln musste, kamen Van Aert und Küng wieder näher an das Spitzenquartett heran, aus dem sich 19 Kilometer vor dem Ziel auf Sektor 5 van Baarle nach vorne absetzte.
Auf den letzten zehn Kilometern ging es nur noch um Platz zwei
Am Carrefour de l’Arbre, dem letzten der 5-Sterne-Sektoren 17 Kilometer vor dem Ziel, bildeten sich hinter van Baarle das Verfolgerduo Mohoric/Lampaert sowie das Trio Van Aert/Küng/Devriendt. Der Vorjahresdritte van der Poel löste sich aus der dahinter folgenden Gruppe und machte sich solo auf die Verfolgung, allerdings betrug sein Rückstand bereits fast 1:30 Minuten.
Sieben Kilometer vor dem Ziel touchierte Lampaert kurz vor einer Kurve einen applaudierenden Zuschauer und verlor die Balance über sein Rad. Der Belgier stürzte spektakulär, konnte sich aber wieder auf eine Ersatzmaschine schwingen und weiterfahren, um sogar noch den zehnten Platz zu belegen. Van Baarle hatte seinen Vorsprung hier schon auf deutlich mehr als eine Minute ausgebaut, die Verfolgergruppe bestand auf den letzten fünf Kilometern aus Van Aert, Küng, Mohoric und Devriendt. Van der Poel und Stuyven folgten eine weitere Minute dahinter.
Während van Baarle seinen ersten Sieg bei einem der fünf Monumente frühzeitig feiern konnte, sorgte der Kampf um das Podium noch für mehr Spannung. Küng eröffnete aus dritter Position heraus den Sprint, doch Van Aert zeigte sich hellwach und konterte den Antritt des Zeitfahr-Europameisters problemlos, um sich den zweiten Platz vor Küng zu sichern.