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05.07.2021 | (rsn) - Lange Gesichter produziert die Tour de France beim Team Ineos Grenadiers nun schon im zweiten Jahr in Folge. Gaben im letzten Jahr die Rückenprobleme von Egan Bernal den Ausschlag, nicht um den Toursieg mitzukämpfen, so ist das Team jetzt durch den Ausfall von drei seiner vier Führungskräfte im Klassement gebeutelt. Und der letzte verbliebene Leader, der Ecuadorianer Richard Carapaz, macht auch nicht den Eindruck, als könnte er dem Mann in Gelb, Tadej Pogacar (UAE Team Emirates), gefährlich werden.
"Pogacar fährt in einer eigenen Liga", gab Carapaz am Sonntagabend unumwunden zu. Der tapfere Giro-Sieger von 2019 war immerhin der einzige Fahrer im Peloton, der in den letzten Tagen noch den Willen zeigte, Pogacar herauszufordern. Drei Belege für diesen Willen gibt es. Am Freitag, auf der Maxi-Etappe über fast 250 km nach Le Creusot stahl sich der Ineos-Kapitän aus dem Favoritenfeld und nahm Kurs auf versprengte Elemente der großen Ausreißergruppe.
Pogacars Team schien auch nicht mehr in der Lage gewesen zu sein, den letzten ernsthaften Rivalen noch einzufangen. Doch der Ecuadorianer ist kein Zeitfahrspezialisiert und sein Motor ist im Flachen nicht so stark wie am Berg. Mithilfe des Movistar-Teams, übrigens Carapaz' früherer Auftraggeber, wurde er kurz vor dem Ziel aber wieder gestellt.
Am Samstag, am Col de Romme, versuchte er dann, Pogacar bei dessen Antritt 30 Kilometer vor dem Ziel zu folgen. Ein paar Pedalumdrehungen lang ließ der Slowene den Ecuadorianer auch noch hoffen. Dann kam die die nächste Beschleunigung des damals noch in weiß fahrenden Youngsters und Carapaz trollte sich mit gesenktem Kopf zurück in die Gruppe der distanzierten Mitbewerber.
Gestern, kurz nachdem sein Bergzug nach dem kompletten Zusammenbruch der UAE-Truppe die Nachführarbeit auf dem Anstieg nach Tignes übernommen hatte, wagte Carapaz erneut einen Angriff. Der sah nicht überzeugend aus, wirkte mehr wie ein Reflex, ganz nach dem Motto: "Huch, mein Team macht Tempoarbeit, ich bin der Kapitän, da muss ich doch auch mal antreten."
Pogacar stand nicht auf Brailsfords Einkaufsliste
Auf diese Aktion reagierte Pogacar mit seinen ganz eigenen Reflexen. Er fuhr schnell zu Carapaz auf, ließ sich dann mit ihm zurück ins Peloton gleiten. Und kurz darauf zeigte er seinen Gegnern den Unterschied zwischen einem richtigen Angriff und einer Alibi-Attacke und flog seinen Gegnern davon.
Damit muss der britische Rennstall, der immerhin sieben Tourerfolge in den letzten neun Jahren landen konnte, seine Ziele korrigieren. "Ja, wie es aussieht, ist Pogacar der stärkste Fahrer", gab Teamchef Sir Dave Brailsford in einem der zuletzt rar gewordenen Zusammentreffen mit Journalisten zu. Ihm war sogar Begeisterung für Pogacars Leistungen anzumerken. "Es ist bemerkenswert, was er getan hat. Man kann da nur in Bewunderung ausbrechen", meinte er.
Inwieweit er da die eigene Einkaufspolitik in Frage stellte, bleibt bislang sein Geheimnis. Aber in den Zeiten, in denen sein Rennstall mit Abstand der finanzstärkste war und Talente nach Lust und Laune rekrutieren konnte, sind mit dem Auftauchen arabischer Investoren dahin. Waren beim ersten Slowenen, also Primoz Roglic, die Zweifel angesichts dessen Umstieg von Skispringen zum Radsport noch nachvollziehbar, so war das Geraune um Supertalent Pogacar schon vor dessen Unterschrift bei Team UAE in der Branche so laut, dass es auch zum Waliser gedrungen sein musste.
Sir Dave will das Unerwartete erwarten
Aber Pogacar landete bei der Konkurrenz. Und Brailsford bleibt nun nichts anderes, als das zu tun, was er Jahre lang den anderen Teamchefs übrigließ: Aus gewundener Rhetorik Hoffnung zu schöpfen. "Wir müssen das Unerwartete erwarten", sagte er. Einen Einbruch des Titelverteidigers also? Eigenen Stärken scheint er zumindest nicht mehr zu trauen. Eher hofft er, dass der Slowene sich im Ungestüm der Kräfte verausgabt. "Er muss seine Kräfte dosieren, aber er hat die Eigenschaft, zu attackieren, und er wird das wohl auch weiter tun", analysierte er.
Letzte Zuflucht nimmt Brailsford zu der Tatsache, dass viele Fahrer schon am Limit sind – und so vielleicht alles außer Kontrolle gerät. "Es ist ein unglaubliches Rennen, so hart. Wenn alle in dieser Intensität weiterfahren, wer steht dann noch in zwei Wochen aufrecht?", fragte er. Es ist eine feine Ironie der Radsportgeschichte, dass der Chef des Rennstalls, der die Tour de France Jahre lang bis zum Ersticken jeglicher Spannung kontrollierte, nun auf das Chaos durch allgemeine Erschöpfung hofft.
Lieber den Spatz in der Hand als die wegflatternde Taube
Dass Ineos indes nicht mehr an den Toursieg glaubt, wurde auch am Sonntag deutlich. Als Thomas und Castroviejo am Fuße des Aufstiegs nach Tignes die Nachführarbeit von UAE übernahmen, ging es nicht mehr gegen Pogacar, sondern nur noch um die Verteidigung eines Podiumsplatzes hinter dem Slowenen. Als ernsthafter Rivale schält sich da der tapfere Ausreißer Ben O’Connor (AG2R Citroën Team) heraus. Vor seinem Sieg in den Alpen gewann er schon eine Giro-Etappe in Madonna di Campiglio.
Gut, beide Male aus einer Fluchtgruppe heraus. Aber Top-Ten-Platzierungen bei Dauphiné und Romandie-Rundfahrt sprechen ebenfalls für ihn. Den Australier hat Ineos nun im Visier. Deshalb dürfte es nicht überraschen, wenn sich in den schwachen Bergzug von UAE auch in den folgenden Etappen die eine oder andere Hilfslok in den blauroten Farben der britischen Mannschaft einreiht. Lieber mehr Kontrolle für den Spatz in der Hand als Chaos für die Taube, die schnell wegflattern dürfte, angesichts der begrenzten Häscherqualitäten im aktuellen Ineos-Aufgebot.
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