Kommentar

Gebt den Selbstdarstellern keinen Raum!

Von Eric Gutglück

Foto zu dem Text "Gebt den Selbstdarstellern keinen Raum!"
12. Etappe der Tour de France, Schlussanstieg nach Alpe d´Huez | Foto: Cor Vos

20.07.2018  |  (rsn) - Der Radsport ist in vielerlei Hinsicht eine besondere Sportart. Zum einen ist es die komplexe Form aus Individual- und Mannschaftssport, zum anderen ist es die Nähe zu den Fans. In fast keiner Sportart ist es den Anhängern möglich, ihre Idole aus nächster Nähe zu bestaunen und mit ihnen in Kontakt zu treten - ob nun am Mannschaftsbus oder am finalen Anstieg.

Doch genau diese Nähe hat auch ihre Schattenseiten, wie zuletzt am gestrigen Schlussaufstieg nach Alpe d’Huez Vincenzo Nibali schmerzlich erfahren musste. Der Italiener kam etwa vier Kilometer vor dem Etappenziel zu Fall, als er sich bei schlechter Sicht, für die abgebrannte Bengalos verantwortlich waren, mit dem Lenker in einem schwarzen Band – möglicherweise der Umhängeschlaufe einer Kamera – verfing und hart zu Boden ging. Sichtlich benommen und unter starken Schmerzen stieg der "Hai von Messina“ wieder auf sein Rad und hielt den Zeitrückstand mit 13 Sekunden in Grenzen. Doch am Abend kam dann die schlechte Nachricht: Wirbelbruch und damit das Tour-Aus.

Zudem wurde auch Chris Froome Opfer eines Fans, dessen "Anschiebintention“ aufgrund der harschen Art und Weise nicht zwangsweise Freundlichkeit unterstellt werden kann. Vor allem der nach wie vor zweifelhafte Salbutamolfall des Briten ließ befürchten, dass sich der viermalige Toursieger am „Berg der Holländer“ einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen würde und die Zielscheibe einiger Verrückter sein könnte – Körper- und auch Bodenkontakt nicht ausgeschlossen.

In Anbetracht dieser Ereignisse stellt sich die Frage: Ist ein Anstieg wie der nach Alpe d’Huez noch zeitgemäß, wenn die Sicherheit der Fahrer nicht mehr gewährleistet werden kann?

Alpe d’Huez genießt Kultstatus – obwohl der Berg mit 13,8 Kilometern und durchschnittlich acht Prozent Steigung nicht zu den schwersten Hindernissen zählt, die Frankreich zu bieten hat. Doch die 21 Haarnadelkurven, alle nach ehemaligen Siegern benannt, sowie tourhistorische Etappen wie beispielsweise die von 1986, als die Teamkollegen Bernhard Hinault und Greg LeMond Hand in Hand den Doppelsieg bejubelten, machen diesen Anstieg besonders und legendär. Nicht umsonst träumt wohl jeder Radprofi davon, einmal in Alpe d’Huez zu gewinnen. Und auch auf Amateure und Radtouristen hat der Anstieg auf 1850 Meter Höhe eine besondere Anziehungskraft.

Doch der Berg hat in Sachen „Fan-Ausschreitungen“ eine Vorgeschichte mit mehreren Kapiteln. Im Jahr 1999 sah Giuseppe Guerini schon wie der sichere Sieger aus, ehe ein Fan vor dem Telekom-Profi auf die Straße sprang, Guerini fotografieren wollte und so zu Fall brachte. Beim Bergzeitfahren im Jahr 2004 standen die Massen dermaßen dichtgedrängt, dass die Fahrer hinter den Motorrädern die Straße nur erahnen konnten. 2011 schließlich schlug Alberto Contador einem Fan ins Gesicht, der ihm mit einem Stethoskop auf den Leib rückte. Eine Strafe gegen Contador bliebt damals aus – wohl auch deshalb, weil man den Vorfall als Notwehr einstufen musste, um einem Sturz zu entgehen.

Es ist vermutlich die Kombination aus Fanatismus, Alkohol und Hitze, die vor allem am Anstieg nach Alpe d’Huez immer wieder die hässliche Seite einiger Anhänger ans Tageslicht bringt. Einige harren stunden- oder gar tagelang aus, bis sich die angestaute Vorfreude in wenige Sekunden völliger Ekstase entlädt. Die Organisatoren haben das erkannt und in diesem Jahr unter anderem die berühmte Kurve der Holländer mit einem Seil "abgesperrt“. Fans konnten so ihren Idolen nah sein, dennoch war zumindest an diesem Streckenpunkt die Sicherheit der Radprofis gewährleistet.

Zwar erscheint eine Vollabsperrung, wie sie oft auf den letzten Kilometern per Gittern vollzogen wird, angebracht. Doch einen Anstieg von rund 14 Kilometern Länge so zu sichern, ist logistisch eine Mammutaufgabe und kostet Geld – Geld, das in anderen Bereichen des Rennens dringend gebraucht wird. Doch nicht immer kann man die Zwischenfälle auf den Alkohol zurückführen. Bei der Flandern-Rundfahrt beispielsweise wird von einigen Fans ebenfalls literweise Alkoholisches konsumiert – schwere Stürze aufgrund von undisziplinierten Anhängern waren in der jüngsten Vergangenheit jedoch nicht zu beobachten.

Das Problem ist ein anderes: Ein Radrennen ist eine offene Veranstaltung. Jeder kann sich an die Strecke stellen und mit sich führen, was er möchte – Einlasskontrollen wie beim Fußball gibt es schließlich nicht. An einem Tag wie gestern, an dem von offizieller Stelle etwa 400.000 Zuschauer allein am Schlussaufstieg geschätzt wurden, sind Taschenkontrollen logistisch überhaupt nicht umsetzbar.

So kam es dann auch, dass jene Rauchschwaden gezündet wurden, die die Sicht so sehr einschränkten, dass sich Vincenzo Nibali zu nah an die Zuschauer begab. Der Italiener stürzte zwar nicht direkt aufgrund selbstverliebter Fans - doch der Rauch, der dem Toursieger von 2014 die Sicht nahm, ist auf das übermäßige Spektakel einiger Übermütiger zurückzuführen. Zwar standen zahlreiche Gendarmen am Straßenrand, um das Publikum zurückzuhalten. Doch Bilder, auf denen Zuschauer wild neben den Fahrern herrennen, dabei straucheln und beinahe das Rennen beeinflussen gibt es viel zu häufig zu sehen - nicht nur in Alpe d'Huez.

Es liegt also an den Fans, sich ihren Sport nicht durch ihr Verhalten zu verderben. Jeder Einzelne ist für sein Handeln verantwortlich und jeder kann auch seinem Idol moralische Unterstützung zukommen lassen. Lautes Jubeln, Klatschen oder Anfeuerungsrufe werden auch von den Profis immer wieder gern wahrgenommen. Und auch laute Buh-Rufe sind in gewisser Weise in Ordnung – schließlich fällt das unter die Kategorie Meinungsfreiheit.

Einige Unverbesserliche wird es jedoch immer geben. Es ist auch ein bisschen wie mit den Flitzern im Fußball – werden sie von den Kameras gezeigt, stiftet das zur Nachahmung an. Einige legen es regelrecht darauf an, einmal im Fernsehen ihren großen Auftritt zu haben, und sei es auf unrühmliche Art und Weise. Ein Gentlemen-Agreement, wie dass keine Fahrer beim Verrichten der Notdurft gefilmt werden, sollte auch für das Zeigen von Selbstdarstellern am Streckenrand gelten. Anstiege wie Alpe d’Huez jedenfalls gehören zur Tour de France wie das Gelbe Trikot dem Gesamtführenden.

Mehr Informationen zu diesem Thema

06.07.2022Ausgerechnet in Roubaix platzte Degenkolbs Tour-Knoten

(rsn) – Vor vier Jahren mussten die Starter der Tour de France letztmals Kopfsteinpflaster-Passagen unter die Räder nehmen. Am . Juli 2018 holte sich Degenkolb in Roubaix nach 156,6 Kilometern inkl

25.07.2020Video-Rückblick: Horror-Sturz endet für Gilbert glimpflich

(rsn) - Auf der 16. Etappe der Tour de France mussten die Zuschauer das Schlimmste für Philipp Gilbert befürchten. In der Abfahrt vom Portet d´Aspet versteuerte der Belgier sich und flog kopfüber

12.11.2018Alpe d´Huez-Sturz: Nibali drei Stunden von Polizei befragt

(rsn) – Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida) ist am Samstag in Modane von der französischen Polizei zu seinem Sturz von der 12. Etappe der Tour de France befragt werden. Damals war der Italiener im Sch

31.10.2018Thomas war bei der Tour wegen Kapitänsfrage frustriert

(rsn) - Am letzten Tag der diesjährigen 105. Tour de France strahlte Geraint Thomas (Sky) im Gelben Trikot auf den Champs-Elysees. Der Waliser feierte den größten Erfolg seiner Karriere und setzte

16.10.2018Nibali wird am 10. November von französischer Polizei befragt

(rsn) - Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida) wird am 10. November in Grenoble von der französischen Polizei zu seinem Sturz von der 12. Etappe der Tour de France befragt werden. Damals war der Italiener

10.10.2018Thomas´ Tour-Trophäe in Birmingham gestohlen

(rsn) - In den vergangenen Jahren kam es immer wieder vor, dass Radsport-Mannschaften von Fahrraddieben heimgesucht wurden. Nun meldet Team Sky den Verlust der Tour-de-France-Auszeichnung von Geraint

03.08.2018“Zwischen Froome und Thomas gab es nie einen Disput“

(rsn) - Seit dem vergangenen Sonntag schon ist die auch 105. Ausgabe der Tour de France wieder Geschichte. In der neuen Ausgabe von Radio Tour – dem Radsportpodcast in Kooperation mit radsport-news.

03.08.2018Nach Tour-Aus fordert Sieberg “Überdenken der Karenzzeit“

(rsn) – Nachdem er im Vorjahr wegen eines Magen-Darm-Virus´ erstmals die Tour de France vorzeitig beenden musste, wollte Marcel Sieberg (Lotto Soudal) bei der 105. Austragung unbedingt wieder Paris

02.08.2018Lappartient: Funkverbot und 6-Mann-Teams gegen Sky-Dominanz

(rsn) - Auf wenig Gegenliebe - um es vorsichtig auszudrücken - ist UCI-Präsident David Lappartient bei den Profis mit seinen jüngst geäußerten Ideen gestoßen, wie man der vor allem in den große

02.08.2018“Ich fand alle Bergpässe schön“

(rsn) – Mit Michael Gogl (Trek-Segafredo), Gregor Mühlberger und Lukas Pöstlberger (beide Bora-hansgrohe) nahmen drei Österreicher an der 105. Tour de France teil. Das rot-weiß-rote Trio erreich

01.08.2018Zabel will sein Selbstvertrauen wieder aufpolieren

(rsn) – Der Frust über das verfrühte Tour-Aus sitzt tief: Rick Zabel (Katusha-Alpecin).musste auf der Königsetappe nach Alpe d`Huez im Kampf gegen das Zeitlimit kapitulieren und in den Besenwagen

01.08.2018Politt: “Wir haben uns nochmal richtig zusammengerissen“

(rsn) – Nach drei harten Wochen bei der Tour de France sehnt sich Nils Politt (Katusha-Alpecin) nach Erholung. Die ist derzeit aber nur bedingt möglich. Denn keine 24 Stunden nach dem Tour-Ende in

Weitere Radsportnachrichten

14.11.2024Bardet: “Sinnlos, an ethischen Radsport zu glauben“

(rsn) - Es war ein durchaus ungewöhnlicher Zeitpunkt, als Romain Bardet im Sommer, kurz vor der Tour de France, sein Karriereende ankündigte. Mindestens genauso ungewöhnlich ist das Rennen, das sei

14.11.2024Quintana beendet Spekulationen, Bonnamour gibt Kampf gegen Dopingsperre auf

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

14.11.2024Rhodos-Prolog-Experte mit Sturzpech im stärksten Rennen

(rsn) – Seine elfte Saison auf KT-Niveau ragt zwar nicht als seine beste heraus, dennoch zeigte Lukas Meiler (Team Vorarlberg) auch 2024, was er drauf hat. Seine beste Platzierung gelang ihm dabei

14.11.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

14.11.2024Schädlich übernimmt die deutschen Ausdauer-Spezialisten

(rsn) – Der Bund Deutscher Radfahrer hat einen neuen Nationaltrainer auf der Bahn für den Bereich Ausdauer. Lucas Schädlich, der seit 2019 die deutschen Juniorinnen unter seinen Fittichen hatte, Ã

14.11.2024Im Überblick: Die Transfers der Männer-Profiteams für 2025

(rsn) – Nachdem zahlreiche Transfergerüchte seit Monaten in der Radsportwelt zirkulieren, dürfen die Profimannschaften seit dem 1. August ihre Zu- und Abgänge offiziell bekanntgeben. Radsport

14.11.2024Schär wird Schweizer Nationaltrainer

(rsn) – Marc Hirschi, Stefan Küng und Co. haben einen neuen Nationaltrainer. Michael Schär wird mit Jahresbeginn 2025 die Verantwortung für die Schweizer Männer in den Bereichen Elite und U23 ü

14.11.2024Lotto Kern - Haus wird Development-Team von Ineos Grenadiers

(rsn) – In den vergangenen beiden Jahren war das deutsche Kontinental-Team Lotto Kern - Haus PSD Bank sogenannter Development-Partner von Red Bull – Bora – hansgrohe. Ab der kommenden Saison wi

14.11.2024Meisen kündigt baldiges Karriereende an

(rsn) – “Spätestens im Januar ist Schluss“, kündigte Marcel Meisen (Stevens) gegenüber RSN an. Der 35-Jährige ist in seine letzte Cross-Saison gestartet und will diese nicht mehr ganz zu End

14.11.2024Traumszenario mit kurzem Anfangsschock

(rsn) – Unverhofft kommt oft – dieser Spruch traf in dieser Saison auch auf Meo Amann zu. Mit dem Elite-Team Embrace The World in die Saison gestartet, bewarb er sich im Sommer auf einen Platz bei

13.11.2024Auch ein kurioser erster UCI-Sieg reichte nicht zum Profivertrag

(rsn) – Auch wenn er in dieser Saison seinen ersten UCI-Sieg einfahren konnte, so gelang Roman Duckert (Storck – Metropol) am Ende seiner U23-Zeit nicht der Sprung in ein Profiteam. Deshalb wird e

13.11.2024Ein Jahr geprägt von Stürzen und viel Unglück

(rsn) – Eigentlich wollte Mikà Heming (Tudor Pro Cycling) 2024 so richtig durchstarten. Die Klassikerkampagne in Belgien hatte er sich als erstes Saisonhighlight gesetzt, doch diese endete für den

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine