Müllers Uruguay-Tagebuch

Es war eine erfolgreiche Resozialisierung ins Peloton

Von Robert Müller

Foto zu dem Text "Es war eine erfolgreiche Resozialisierung ins Peloton"
Robert Müller wurde zum Abschluss der Uruguay-Rundfahrt Tagesdritter | Foto: privat

10.04.2023  |  (rsn) - Hola de Montevideo, Uruguay. Am elften Tag stand heute die 10. und letzte Etappe über nochmal 200 Kilometer an. Frühstück gab es in der Unterkunft im Fußball Stadion nicht, es wurden also alle Reste zusammengekratzt, damit jeder etwas in den Bauch bekam, keine optimalen Bedingungen für eine so lange Etappe. Der Start erfolgte auf einer Rennstrecke für Rennräder, die sogar komplett mit Beleuchtung ausgestattet war, sowas habe ich in Deutschland noch nicht gesehen. Es ging etwa 10 Kilometer neutralisiert aus der Stadt heraus auf die Küstenstraße und dann nach einer Pinkelpause richtig los.

Zu Beginn fuhr ich zwei Attacken mit und die erste davon wäre fast erfolgreich gewesen, wir hatten uns schon zu zehnt ein Stück abgesetzt, ehe wir wieder gestellt wurden. Ich hielt mich auf der Windkante immer vorne auf und war jederzeit bereit, zu einer Gruppe hinzuspringen, wenn sie erfolgversprechend aussah. Das war nach 45 Kilometern der Fall und ich saß beim erst dritten Versuch schon in der Gruppe des Tages. Es war eine große Gruppe mit etwa 20 Fahrern und einige Teams waren mehrfach vertreten, gute Voraussetzungen also.

Anfangs machte ich nur wenig Führungsarbeit und wollte mir erstmal anschauen, wie die Gruppe so läuft, wer das größte Interesse hat und wie sich unser Vorsprung entwickelt. Als wir eine Lücke von drei Minuten hatten, stieg ich voll mit ein, da ich der Sache nun eine Chance gab. Ich achtete jedoch darauf, mich gut zu verpflegen und auch nicht zu viel zu machen. Die Gruppe lief gut und wir konnten unseren Vorsprung lange bei zweieinhalb Minuten halten. Es machte Spaß, mal wieder in einer Führungsgruppe zu fahren und nicht nur Passagier im Feld zu sein.

Im Finale wurde unser Vorsprung bedrohlich kleiner und immer weniger Fahrer fuhren noch mit durch die Führung. Bei noch zwanzig verbleibenden Kilometern dachte ich, wir würden es nicht schaffen und fuhr auch nicht mehr mit. Doch unser Vorsprung fiel nicht unter 50 Sekunden und aus dem Augenwinkel sah ich plötzlich jemanden mit einem Drei-Kilometer-Banner in den Händen am Straßenrand stehen, das erste Mal während dieser Rundfahrt und genau im richtigen Moment. Ich kannte zwar das Finale nicht, konnte mir den Weg bis zum Ziel nun aber gut einteilen und mir die richtige Position innerhalb der Gruppe suchen.

Auf einmal ging es scharf links herum bergauf und es wurde heftig attackiert. Ich war überrascht, konnte mich jedoch an einem Hinterrad festbeißen und spürte, dass die Beine noch etwas hergaben. Vorne hatten sich vier Mann leicht abgesetzt, doch ich blieb ruhig und vertraute darauf, dass mein Vordermann das Loch zu fahren würde. Er tat mir auf der ansteigenden, mit vielen Zuschauern gesäumten Zielgeraden den Gefallen und im richtigen Moment eröffnete ich meinen Sprint. Für eine Sekunde dachte ich, sogar gewinnen zu können, aber so viel konnte ich dann doch nicht mehr aus den Beinen herausquetschen.

Als Dritter überquerte ich schließlich den Zielstrich und hatte mich damit ein Stück weit selbst überrascht. Wenn ich an die erste Etappe zurückdenke, hätte ich das nicht für möglich gehalten, aber meine Form war seitdem merklich angestiegen. Außerdem war ich heute ein fast perfektes Rennen gefahren und hatte keinen Fehler gemacht, meiner Erfahrung sei Dank. Bei der Siegerehrung bekam ich einen Pokal, den ich für den Heimflug erstmal auseinander schrauben muss. In der Gesamtwertung bin ich heute noch auf Platz 26 vorgerückt.

Die Gesamtwertung gewonnen hat übrigens ein 48-jähriger Argentinier, Jorge Giacinti, der die Rundfahrt bereits 1998 und 2004 gewonnen hatte. Eine unglaubliche Leistung, aber es ist leider davon auszugehen, dass er nicht sauber ist, so wie einige andere Fahrer hier auch. Es gab hier nicht eine Dopingkontrolle und der Radsport in Südamerika ist nicht gerade als besonders sauber bekannt. Trotzdem muss man die Leistung und Motivation in diesem Alter anerkennen, auch wenn er sicher viel mit Auge und Erfahrung gemacht hat.

Mein Fazit zur Rundfahrt fällt positiv aus, es war vom Niveau her genau das richtige Rennen für den Saisoneinstieg und meine Resozialisierung ins Peloton nach den Ultrarennen letztes Jahr. Es war nicht zu hart, aber ich wurde doch ordentlich gefordert und war ein paar Mal an meinem Limit. Das Drumherum war einfachgehalten aber ausreichend, nur die mangelnde Kommunikation hat genervt, allerdings selber Schuld, wenn man kein Spanisch spricht. Nun lasse ich etwas brasilianische Meeresluft an die Beine und hoffe dann auf gutes Standgas für einen Bikepacking-Trip im Anschluss.

Vamos muchachos
Gez. Sportfreund Radbert

Mehr Informationen zu diesem Thema

09.04.2023Massenschlafsaal als Unterkunft und Götterspeise zum Nachtisch

(rsn) - Hola de Punta del Este, Uruguay. Heute Morgen gab es in dem Schullandheim, in dem wir untergebracht waren, nur kalten Reis von gestern und Äpfel zum Frühstück, mehr nicht. Zum Start konnte

09.04.2023Auf der letzten Rille noch den Zug nach vorn erwischt

(rsn) - Hola de Rocha, Uruguay. Der Wecker klingelte kurz vor sechs Uhr und es gab sogar ein bescheidenes Frühstück. Der wieder über 200 Kilometer lange Transfer zum Start sollte 6:30 Uhr starten

07.04.2023Zu viele Fragen darf man hier nicht stellen

(rsn) - Hola de Melo, Uruguay. Heute sollte es bereits um sechs Uhr Frühstück geben, gab es aber nicht. Das kommt hier manchmal vor, sagt uns vorher aber niemand. Überhaupt läuft die Kommunikatio

06.04.2023Unterwegs mit auffälligen Fahrern und einem Vollidioten

(rsn) - Hola de Tacuarembo, Uruguay. Der Tag begann schon um sechs Uhr, denn vor dem Start um 8:30 Uhr hatten wir noch einen einstündigen Transfer zu absolvieren. Die ganze Rundfahrt-Karawane stoppt

05.04.2023Gegen die Zahnschmerzen gab es eine Spritze in den Hintern

(rsn) - Hola de Paysandu, Uruguay. Heute Morgen suchte mein belgischer Teamkollege Kim den Rennarzt auf, da er in der Nacht wegen starker Zahnschmerzen kaum schlafen konnte. Der Arzt meinte, er hätte

04.04.2023Nach Abbruch: Die Letzten waren diesmal tatsächlich die Ersten

(rsn) - Hola de Mercedes, Uruguay. Heute konnte ich länger schlafen, erwachte aber zum unschönen Prasseln des Regens ans Fenster des Hotelzimmers. Ich habe wohl das Wetter zu voreilig gelobt, denn

03.04.2023Reinier ist trotz Windkantenstress wohl nicht ausgelastet

(rsn) - Hola de Trinidad, Uruguay. Der Tag begann für mich wieder sehr früh, denn wegen des Jetlags (es ist hier fünf Stunden früher als in Deutschland) war ich bereits gegen 4:30 Uhr wach und kon

02.04.2023Ohne Profil und Streckenkarte wurde es eine Fahrt ins Blaue

(rsn) - Hola de Durazno, Uruguay. Heute früh (Freitag, d. Red.) herrschte etwas Aufregung, weil alle unsere Ersatzlaufräder verschwunden waren. Sie sind deutlich beschriftet, also glaubten wir nicht

01.04.2023Was an Bergen fehlt, macht der starke Wind absolut wett

(rsn) - Hola de Montevideo, Uruguay. Heute ging die Rundfahrt mit der ersten Etappe über 172 km richtig los, und zwar härter, als mir lieb war. Uruguay ist ja ein ziemlich flaches Land, es gibt kein

31.03.2023Beim Prolog im Dunkeln lief es wie erwartet schlecht

(rsn) - Hola de Colonia, Uruguay. In den nächsten zehn Tagen werde ich hier von der 78. Vuelta Ciclista del Uruguay berichten, der ältesten Rundfahrt Amerikas. Sie findet in der uruguayischen Touris

Weitere Radsportnachrichten

13.10.2025Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir über die w

13.10.2025Balsamo als Topfavoritin nach China

(rsn) – Die Tour of Chongming Island (2.WWT) bildet den Abschluss der Women’s WorldTour 2025. Drei Tage lang findet das Rennen auf der zweitgrößten chinesischen Insel vor den Toren Shanghais st

13.10.2025Nicolas Vinokurov verlängert bei XDS - Astana

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

13.10.2025Saisonfinale im Fernen Osten: Sprint-Chancen und ein “Scharfrichter“

(rsn) – Die Tour of Guangxi bildet vom 14. bis 19. Oktober das Saisonfinale der UCI WorldTour 2025. Auf den sechs Etappen der chinesischen Rundfahrt werden 1019,9 Kilometer zwischen Fangchenggang un

13.10.2025Seltene Niederlage: Pogacar verliert gegen Amateur

(rsn) – Tadej Pogacar hat am Sonntag eine seltene Niederlage einstecken müssen – und das ausgerechnet bei seiner eigenen Veranstaltung. Bei der "Pogi Challenge" in Slowenien musste sich

13.10.2025Tour of Chongming Island im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(ran) - Bereits seit 2007 steht die Tour of Chongming Island im Rennkalender der Frauen und zählt seit 2016 zur Women´s World Tour. Die Rundfahrt führt über drei Etappen und kam zumeist den Sprin

13.10.2025Grande Partenza 2026 in Bulgarien

(rsn) – Der Giro d’Italia 2026 wird in Bulgarien beginnen. Dies bestätigte der Präsident der Organisation RCS Urbano Cairo beim Festival dello Sport in Trentino. Das bedeutet, dass die Italien-

13.10.2025Tour of Guangxi im Rückblick: Die ersten neun Jahre

(rsn) - Die erstmals 2017 ausgetragene Tour of Guangxi ist seitdem das letzte WorldTour-Rennen der Saison. Die sechstägige Rundfahrt wird in der autonomen Region Guangxi im Süden Chinas ausgetragen

12.10.2025Biesterbos überrascht bei der Gravel-WM

(rsn) - Nicht zum ersten Mal in dieser Saison bringt ein Fahrer eines Teams außerhalb der WorldTour die Profis der Topliga des Radsports beim Kampf um einen Meistertitel ins Schwitzen. Nachdem in Ita

12.10.2025“Im Finale waren wir vielleicht ein bisschen dumm“

(rsn) – Bis eine Minute vor der endgültigen Entscheidung von Paris-Tours (1.UWT) hatte die Grande Nation noch fest daran glauben können, dass nach dem Vorjahressieg von Christoph Laporte (Visma â

12.10.2025Philipsen: “Mit diesen Jungs auf dem Podium zu sein, ist ein Privileg“

(rsn) – Matteo Trentin (Tudor) hat die 119. Auflage von Paris–Tours (1.Pro) im Sprint einer sechsköpfigen Spitzengruppe gewonnen und damit seinen dritten Sieg beim französischen Herbstklassiker

12.10.2025Trentin gewinnt auch die zweite Version von Paris-Tours

(rsn) – Matteo Trentin (Tudor) hat mit Paris-Tours (1.Pro) den letzten großen Herbstklassiker auf europäischer Bühne im Zielsprint einer Sechsergruppe für sich entschieden. Das traditionsreiche

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour de Kyushu (2.1, JPN)