Interview mit dem viermaligen Zeitfahrweltmeister

Martin: “Ich werde beim Giro Road Captain und Mentor sein“

Von Joachim Logisch

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Tony Martin (links) führt Jumbo - Visma an | Foto: Cor Vos

02.10.2020  |  (rsn) - Zum zweiten Mal in seiner Karriere unternimmt Tony Martin das Double aus Tour de France und Giro d’Italia. radsport-news.com sprach mit dem viermaligen Zeitfahrweltmeister über den Schock am vorletzten Tag der Frankreich-Rundfahrt, wie es ist, anderen beim Kampf gegen die Uhr zuzuschauen, und warum er sich auf die nächste WM und den Tour-Start 2022 in Kopenhagen freut.

Wie haben Sie die Tour verkraftet?
Tony Martin: Bis Paris habe ich mich noch ganz gut gefühlt. Nachdem aber die ersten Tage zuhause vergangen waren und ich das erste Mal wieder aufs Rad stieg, merkte ich, dass ich doch ziemlich angeschlagen war. Was nach der Tour ganz normal ist. Wenn der Kopf weiß, dass er runterfahren kann, dann fährt er auch runter. Es war nicht ganz einfach, da ich die Erholung und den kleinen Wiederaufbau komprimieren musste. Zwei Wochen Pause geht nicht, sonst ist die Form komplett im Keller. Anfang der Woche hatte ich wieder ganz gute Beine und mich auch mental ganz gut erholt, so dass ich wieder mit Engagement und Motivation zum Giro reise.

Pogacar hat Ihrem Kapitän Roglic am vorletzten Tag noch den sicher geglaubten Toursieg weggeschnappt. Wie haben Sie und das Team diesen Schock verarbeitet?
Martin: Eigentlich ganz gut. Also während des Zeitfahrens, als sich die Katastrophe anbahnte und danach war die Stimmung im Keller. Aber am Abend, als wir alle zusammenkamen und auch Primoz (Roglic) im Hotel war und wir bei einem schönen Essen zusammensaßen, konnten wir auch schon wieder lachen. Es war nicht so, dass wir bis Paris mit langen Gesichtern rumgelaufen sind. Auch in Paris hatten wir noch einen sehr schönen Abschlussabend. Klar war der Samstag nicht schön, wir haben uns aber alle darauf besonnen, was die drei Wochen davor passiert war. Das waren ja zu einhundert Prozent positive Sachen, auf die wir stolz waren. Wir haben auch sehr viel Zuspruch bekommen. Das hat sehr gutgetan.

Niemand rechnete damit, dass Pogacar noch ins Gelbe Trikot stürmen könnte.
Martin: Damit hat keiner gerechnet. Man muss vielleicht auch lernen, dass man seiner Sache nie zu sicher sein darf. Wir sind mit einer gewissen Selbstsicherheit auf den Samstag zugegangen. Wir hatten uns keine Gedanken darüber gemacht, dass wir Pogacar vorher noch mehr hätten angreifen müssen, um vor dem Zeitfahren noch mehr Vorsprung herauszuholen. Wir sind von einer ernsthaften Gefahr nicht mehr ausgegangen.

Sie sind der einzige aus dem Tourteam, der nun beim Giro antreten wird. Wie kommt das?
Martin: Meine Freundin ist hochschwanger und wir erwarten unser zweites Kind im November. Wenn ich die Vuelta bestreiten würde, könnte ich die Geburt verpassen. Das war mir zu riskant. Deshalb habe ich das Team gebeten, den Giro fahren zu dürfen.

Ihre Aufgaben in Italien?
Martin: Ähnlich wie bei der Tour. Wir müssen noch abwarten, ob wir gleich als Favoritenmannschaft starten. Da werde ich oft vorne mit reingehen müssen. Die wichtigere Rolle wird wohl sein, dass ich in unserem sehr jungen und teilweise unerfahrenen Team als Road Captain und Mentor agieren werde, um die Jungs anzuleiten.

Wird Jumbo - Visma um die Gesamtwertung kämpfen?
Martin: Steven Kruijswijk ist unser Kapitän. Ansonsten kann ich nur hoffen, dass die ganz Großen bei der Tour waren und nun keine Lust mehr haben. Ein Selbstläufer wird der Giro bestimmt nicht. Wir können aber mit Steven sicher ums Podium mitfahren.

Sie haben auf die WM verzichtet. War das im Nachhinein eine gute Entscheidung?
Martin: Ich denke, es war ein schöner Kurs, der mir vielleicht entgegengekommen wäre, aber um den Titel hätte ich nicht wirklich mitfahren können. Da war mir die Erholung wichtiger, damit ich den Giro einigermaßen frisch angehen kann. Meine hochschwangere Freundin brauchte mich auch zuhause. Da kann ich zwischen zwei Grand Tours nicht sagen, ich verschwinde nochmal vier Tage zur WM.

Früher sind sie als Favorit in die Zeitfahren gegangen. Fällt es Ihnen nicht schwer, heute locker zu fahren oder sogar zuzuschauen?
Martin: Eine WM anzuschauen, schmerzt schon, weil mit ihr auch viele Erinnerungen verbunden sind. Insofern wäre ich schon gerne vor Ort gewesen. Das war mir diesmal nicht möglich. Aber dieses Jahr mit Corona ist nicht zu vergleichen mit anderen. Ich bin schon heute sehr, sehr motiviert, nachdem ich hörte, dass der Kurs der nächsten WM in Flandern relativ flach sein soll. Da bereite ich mich für 2021 lieber hundertprozentig darauf vor, als in diesem Jahr einen Versuch zu starten, der sehr wahrscheinlich nach hinten losgegangen wäre. Aber auch - wie im Zeitfahren der Tour - von locker zu reden, passt nicht. Klar waren es keine einhundert Prozent, aber ich hatte trotzdem 400 Watt auf der Uhr.

Mental ist es sicher etwas anderes, wenn Sie ohne Druck starten können.
Martin: Ja, mental ist es ein halber Ruhetag. Ich genieße es heute, mir die Sachen rauspicken zu können, bei denen ich realistisch um den Sieg mitfahren kann.

Sie haben gesagt, der Spaß am Radfahren ist wieder da. Der Traum von einem Sieg auch?
Martin: Ja, aber ohne Druck! Wenn es mal passiert, ist es schön, wenn ich mal so einen goldenen Tag erwische. Es gibt ja solche Tage, an denen alles geht. Das Team liefert mir die Voraussetzungen dafür, was das Training und die Betreuung angehen. Ich freue mich auf die nächsten zwei Jahre, da ich weiß, es kommen schöne Wettkämpfe wie nächstes Jahr die WM in Belgien. Ich schätze auch, dass es beim Tourstart in Kopenhagen (2022) das Zeitfahren geben wird. Ob es am Ende zum Sieg reicht, weiß ich nicht. Aber es sind Rennen, bei denen ich gut abschneiden möchte!

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