Vorschau 111. Mailand - Sanremo

Eine Classicissima voller Veränderungen: Van Aert Topfavorit

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Mailand - Sanremo | Foto: Cor Vos

07.08.2020  |  (rsn) – Die 111. Austragung von Mailand – Sanremo in diesem Jahr wird eine besonders ungewöhnliche. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Primavera in den August verlegt, aber auch die Strecke musste nach Intervention einiger Städte und Gemeinden drastisch verändert werden und die Teams dürfen nur noch sechs Fahrer an den Start schicken.

All diese Faktoren lassen das nach wie vor erste Monument der Saison zu einem Radrennen voller Fragezeichen werden. Wie lässt sich das Rennen mit Sechserteams kontrollieren? Welche Auswirkung hat die neue Streckenführung, die allerdings nur die ersten 260 Kilometer betrifft? Werden die Fahrer, die im März zum Favoritenkreis zählten, auch bei der Austragung im deutlich heißeren August körperlich in der Lage sein, um den Sieg mitzufahren?

Außerdem noch offen: Wie fit sind die Fahrer nach mehreren Monaten ohne Rennen und mit nur wenigen Wettkämpfen zur Vorbereitung in den Beinen, wenn auf der Via Roma nach ewiglangen 298 Kilometern um den prestigeträchtigen Sieg gefahren wird? “Es wird ein völlig anderes Mailand – Sanremo“, sagte Davide Bramati, Sportdirektor bei Deceuinck – Quick-Step entsprechend. Sein Kollege bei Groupama – FDJ, Julien Pinot, ergänzte: “Die Fahrer sind es nicht gewohnt, bei 35 Grad die Klassiker zu fahren. Da muss man noch mehr auf die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr achten.“

Nur die letzten 35 Kilometer bleiben unverändert

Die einzige Konstante bietet in diesem Jahr das Finale des italienischen Rennens. Die letzten 35 Kilometer bleiben im Vergleich zum Vorjahr unverändert. Heißt: Die entscheidenden Passagen wie Cipressa (22km vor dem Ziel) und Poggio (6km vor dem Ziel), wo die Hügelspezialisten die Entscheidung suchen werden, sowie die anschließende Abfahrt hinunter nach Sanremo, wo auf der Via Roma der Sieger gekürt wird, sind nach wie vor im Programm.

Dafür aus dem Rennen genommen werden mussten die Anstiege Turchino, Capo Mele, Capo Cerva und Capo Berta sowie die rund 130 Kilometer lange malerische Passage entlang der Ligurischen Küste. Der Parcours wird stattdessen weiter ins Landesinnere verlegt, vor Imperia kommt rund 45 Kilometer vor dem Ziel mit dem Nava ein neuer, rund fünf Kilometer langer Anstieg ins Programm.

Van Aert der große Favorit

Nachdrücklich für die Favoritenrolle am Samstag empfohlen hat sich Wout Van Aert (Jumbo – Visma). Der Belgier kann sowohl sprinten, wie er mit Rang drei bei Mailand-Turin am Mittwoch mal wieder bewies, als auch als Solist Rennen für sich entscheiden, wie er letzten Samstag eindrücklich mit seinem Coup bei der Strade Bianche unterstrich. Der ehemalige Cross-Weltmeister verfügt von den Sanremo-Favoriten aktuell wohl über die beste Form. 

"Es war ein guter Test für Samstag. Ich wollte meine Sprinterbeine testen und mich an die Hektik gewöhnen", sagte Van Aert nach Mailand-Turin, wo er mit der höchsten Endgeschwindigkeit den Zielstrich erreichte und sich nur Arnaud Demare (Groupama - FDJ) sowie Caleb Ewan (Lotto Soudal) geschlagen geben musste.

"Wenn ich am Samstg mit diesen Fahrern auf die Zielgerade komme, dann weiß ich, dass ich keine Angst haben muss. Zumal das Rennen zuvor auch schwerer sein wird“, so der vor Selbstvertrauen strotzende Kapitän von Jumbo – Visma.

Sprinter gegen Angreifer diesmal mit mehr Angreifer-Chancen?

Sein schärfster Rivale wird wohl Titelverteidiger Julian Alaphilippe (Deceuninck – Quick-Step) sein. Der Franzose hatte am letzten Wochenende bei Strade Bianche gleich fünf Mal Defekt und konnte so nicht in die Entscheidung eingreifen. Aus Sicht des Deceuninck-Kapitäns sollte somit das Pech für die Klassiker aufgebraucht sein.

Von den Sprintern muss man vor allem Ex-Sieger Demare (Groupama – FDJ) sowie den Australier Ewan auf der Rechnung haben, der beim Vorbereitungsrennen Zweiter wurde und mit Rang zwei bei Mailand–Sanremo 2018 zeigte, dass ihm das Rennen liegt. "Der Sieg so kurz vor Mailand–Sanremo gibt mir zusätzliches Selbstvertrauen. Die Jungs wissen, dass ich mich im Moment super fühle. Wir haben große Ambitionen für das Wochenende“, traut sich Demare einen weiteren Triumph zu. Sein Sportdirektor Frederic Guesdon fügte an: "Wir können am Samstag auf einige schöne Dinge hoffen.“

Seine Finisseur-Qualitäten spielte zuletzt bei der Burgos-Rundfahrt zudem Sam Bennett aus. Der Ire wird bei Deceuinck – Quick-Step der Backup von Alaphilippe sein, falls der Franzose sich im Finale unpässlich fühlen sollte. Trotz zweier guter Karten, sieht Bramati sein Team "nicht als Favoriten. Aber natürlich sind wir motiviert und werden alles geben", so der Italiener. Ebenfalls auf dem Zettel haben muss man Philippe Gilbert, der bei Lotto Soudal den offensiveren Part der Doppelspitze mit Ewan ausüben muss und dem nur noch Mailand – Sanremo in seiner Monumente-Sammlung fehlt. 

Gaviria, Kristoff oder Formolo - UAE hat Qual der Wahl

Sind bei den Kapitänsduos Alaphilippe/Bennett und Ewan/Gilbert die Zuständigkeitsgebiete klar abgesteckt, so darf man gespannt sein, wie diese beim UAE Team Emirates aussehen werden. Die Equipe schickt mit Fernando Gaviria, zuletzt Auftaktsieger der Burgos-Rundfahrt, und Alexander Kristoff, 2014 Sieger und 2015 hinter dem diesmal fehlenden John Degenkolb Zweiter in Sanremo, zwei potentielle Kandidaten für eine Spitzenplatzierung ins Rennen – die aber beide den Sprint als ihre schärfste Waffe haben. 

Mit Davide Formolo, am letzten Samstag Zweiter bei Strade Bianche, hat man aber noch ein drittes heißes Eisen im Feuer, das am Poggio geschmiedet werden könnte. "Es ist eines meiner Lieblingsrennen und ich bin im Falle eines Sprintes einer der Favoriten", beanspruchte Gaviria zumindest im Falle einer Ankunft eines größeren Feldes die Kapitänsrolle für sich.

Sagan will endlich auch in Sanremo jubeln

Auf eine Ein-Mann-Spitze setzt dagegen Bora – hansgrohe: Nach zwei zweiten und drei vierten Plätze will Peter Sagan erstmals auf der Via Roma triumphieren und hat dafür ein komplett auf ihn ausgerichtetes Team zur Seite gestellt bekommen. Bei der Generalprobe Mailand-Turin zeigte er mit Rang vier eine gute Leistung. So ein Fehler wie am Mittwoch, als er den Sprint zu früh eröffnete, wird ihm beim Monument sicherlich nicht passieren. "Meine Form und meine Beine waren sehr gut und ich freue mich jetzt auf Mailand-Sanremo", hatte Sagan nach seinem letzten Rennen verkündet.

Sunweb, das zweite deutsche Team am Start, hat zwar keinen ausgewiesenen Favoriten auf den Sieg in den eigenen Reihen. Dafür können mit Michael Matthews und Cees Bol im Sprint oder auch dem zum Saisonauftakt stark fahrenden Tiesj Benoot gleich drei Fahrer für eine Überraschung sorgen.

Colbrelli trägt die italienischen Hoffnungen

Die größten italienischen Hoffnungen ruhen beim Heimspiel neben Formolo auf Sonny Colbrelli (Bahrain – McLaren), der im Vorfeld eine Etappe bei der Route d`Occitanie gewinnen konnte, und dem im NTT-Dress wiedererstarkten Giacomo Nizzolo. Abwarten muss man, in welcher Form sich Vincenzo Nibali (Trek – Segafredo) nach seiner bei Strade Bianche erlittenen Sturzverletzung zeigen wird. Der Sieger von 2018 wurde zu Beginn der Woche zwar Fünfter beim Gran Trittico Lombardo (1.Pro), allerdings war dort die Besetzung nicht mit der von Mailand–Sanremo vergleichbar.

Der Favoritenkreis wird abgerundet durch den Vorjahreszweiten Oliver Naesen (AG2R), Alexey Lutsenko (Astana), Alberto Bettiol (Education First) und Michal Kwiatkowski (Ineos), der das Rennen 2017 gewann und im Vorjahr Dritter wurde. Alle drei haben Chancen im Sprint eines dezimierten Feldes. Gespannt sein darf man, wie sich Mathieu van der Poel (Alpecin – Fenix) bei seiner ersten Primavera schlagen wird. "Mathieu ist mehr als bereit", kündigte jedenfalls sein Teamchef Christophe Roodhooft gegenüber Het Nieuwsblad an.

Die Deutschsprachigen in der Helferrolle

Die deutschsprachigen Fahrer werden am Samstag vor allem als Helfer gefragt sein. Marcus Burghardt (Bora – hansgrohe) wird für Sagan schuften, genau wie Paul Martens (Jumbo – Visma) für Van Aert. Auch auf Jasha Sütterlin, Nikias Arndt (beide Sunweb), Max Walscheid (NTT), Juri Hollmann (Movistar) und Jonas Koch (CCC) werden Helferaufgaben zukommen. Einzig Rick Zabel könnte bei Israel Start-Up Nation freie Fahrt bekommen.

Ähnlich sieht es bei den Österreichern, Schweizern und Luxemburgern aus. Michael Gogl (NTT), Felix Großschartner (Bora – hansgrohe), Marco Haller (Bahrain – McLaren), Michael Schär (CCC), Stefan Küng (Groupama – FDJ), Reto Hollenstein (Israel Start-Up Nation), Michael Albasini (Mitchelton – Scott) und Bob Jungels (Deceuninck – Quick-Step) dürften allesamt mit dem Kurs zurecht kommen, aber sich im Finale dann doch in den Dienst der Mannschaft stellen.

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