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20.02.2019 | (rsn) - Der Schweiß tropft auf vier schwarze Matten nebeneinander. Ella Harris hängt ein langer Rotzfaden vom Kinn herunter. Die Neuseeländerin gibt alles, tritt mit voller Kraft in die Pedale, um in der Spitzengruppe zu bleiben - der Spitzengruppe, deren andere Mitglieder weit weg in ihren Wohnzimmern sitzen. Harris hat lediglich ihre Canyon-SRAM-Teamkolleginnen Tanja Erath, Rotem Gafinovitz und Alice Barnes im Canyon-Hauptquartier in Koblenz neben sich. Auf einem Bildschirm sieht sie ihr virtuelles Alter Ego sowie die ihrer Kontrahentinnen. Und direkt vor ihr stehen rund 150 Zuschauer, die sie anschreien.
Es ist ein komisches Setting, aber eines, das Lust auf mehr macht, dieses erste Rennen der sogenannten Zwift KISS Super League Women, der ersten eSport-Rennserie für Profiteams in der virtuellen Welt der Trainingssoftware Zwift. Die Frauen sitzen auf ihren Smarttrainern, der modernen Form der klassischen Rolle, und fahren nicht durch ein Menschenspalier, sondern sehen sich 40 Minuten lang denselben Blicken ausgesetzt.
"Bei anderen Zwift-Events sitzt man mit dem Rücken zum Publikum, jetzt mit dem Gesicht. Ich glaube, man kann hübscher aussehen, als wenn man all out auf der Rolle fährt. Aber man selbst kriegt echt wenig mit, bis auf das Anfeuern. Denn man guckt sich keine einzelnen Gesichter aus, obwohl ich viele Leute kannte", erzählte Erath, deren Avatar nach 31 virtuellen Kilometern und 42:45 Minuten als Elfte ins Ziel am Strand von Watopia rollte.
Start- und Preisgeld auf WorldTour-Niveau
Die 29-Jährige ist eines der bekanntesten Gesichter im Umfeld von Zwift. 2017 gewann sie die zweite Ausgabe der Zwift Academy und somit einen Platz im Profi-Straßenteam Canyon-SRAM. Nun führt Erath ihre Mannschaft bei der Zwift KISS Super League an, wo nicht die Steuerkünste, sehr wohl aber die radfahrerischen Fähigkeiten in Form von durch die Beine erbrachte Wattleistung in Verbindung mit dem im Vorfeld offiziell gemessenen Körpergewicht den Ausschlag geben - und natürlich taktisches Know-How. Denn auch auf Zwift spart man im Windschatten Kraft.
Acht Fahrerinnen haben die insgesamt neun Teams, darunter sieben Straßen-Profi-Rennställe wie die deutschen Teams Canyon-SRAM und WNT-Rotor, im Vorfeld nominiert - vier von diesen acht Fahrern treten je Rennen an. Wer das ist, hängt jeweils vom Rennprogramm auf der Straße ab. Darauf liegt natürlich weiterhin der Fokus, und die Zwift-Rennen sollen daran auch nichts ändern. Trotzdem haben auch sie einen Wert, der über den reinen Spaßfaktor hinausgeht: 1.000 Euro Startgeld bekommt jedes Team pro Rennen, 1.500 Euro erhält die jeweilige Siegermannschaft. Außerdem gibt es Prämien für Sprintwertungen. Ein erfolgreicher Abend auf Zwift ist in Sachen Preisgeld bereits attraktiver als viele Rennen der Women's WorldTour.
Zwift-Spezialistinnen düpieren Straßen-Profis
Canyon-SRAM belegte am ersten Abend durch die Einzelplatzierungen - drei von Harris, elf von Erath, 14 von Barnes und 23 von Gafinovitz - den dritten Rang, was 250 Euro einbrachte - und Erath sicherte weitere 200 Euro als Zweite in der Sprintwertung. Als sie nach acht Kilometern Vollgas gab und mit 9,7 Watt pro Kilogramm den ersten der drei Zwischensprints gewann, tat sie das unter dem tosenden Jubel des anwesenden Publikums. "Die Stimmung war toll. Aber natürlich ist dadurch auch der Aufregungsgrad etwas höher", so Erath später.
Der Sieg zum Serienauftakt ging an keines der Straßen-Profi-Teams, sondern an die Zwift All Stars - eine Auswahl aus Frauen, die in den zahlreichen anderen Rennen auf Zwift bereits beeindrucken konnten. Erste, Vierte, Fünfte und Neunte wurden Louise Houbak, Sharon Bird, Vicki Whitelaw und Britt Mason, die zuhause in Dänemark, England, Australien und den USA in die Pedale traten.
Gleichmäßiges Fahren der Schlüssel
Wie Erfahrung beim Bewegen im Feld auf der Straße hilft, so hilft sie eben auch in der virtuellen Rennwelt. "Als ich letztes Jahr ein Rennen direkt nach der Zwift Academy gemacht habe, wusste ich noch eher, wie ich konstant das Tempo halte, um in der virtuellen Gruppe zu bleiben. Jetzt hatte ich mehr Leistungsspitzen, so dass ich immer wieder vorne raus bin, dann wieder nach hinten. Daran muss man sich erstmal wieder gewöhnen", erklärte Erath. Während man auf der Straße die Kontrahentinnen direkt neben sich hat und im Feld mitschwimmt, muss man allein auf der Rolle ein besonderes Gefühl dafür entwickeln, gleichmäßig dieselbe Leistung zu treten - und antizipieren, wie sich die weit entfernte Konkurrenz in ihrem jeweiligen Wohnzimmer gerade verhält.
Als sich gegen Ende der zweiten von drei Runden auf Watopia eine neunköpfige Spitzengruppe bildete, verpasste Erath, die kurz zuvor um den zweiten Zwischensprint gekämpft hatte, den Zug. Und obwohl der Rückstand der zweiten, etwa gleich großen Gruppe auf die neun Spitzenreiterinnen um Houbak, Bird, Harris und Co. zunächst nur zwölf Sekunden betrug und dann sogar auf drei Sekunden zusammenschrumpfte, kamen Erath, Barnes und ihre Begleiterinnen auf den verbleibenden elf Kilometern nicht mehr heran - auch nicht mit Hilfe des lauthals anfeuernden Publikums in Koblenz.
Keine Konkurrenz, eine Ergänzung zum Straßenradsport
"Bei Zwift ist es extrem schwierig, eine Gruppe zurückzuholen. Ich habe mein Aero-Power-Up (ein jedem einmalig zur Verfügung stehendes Hilfsmittel auf Zwift, um kurzzeitig den Luftwiderstand zu verringern - Anm. d. Red.) benutzt und wir waren auf drei Sekunden dran. Auf der Straße zieht es dann vollständig zu, aber auf Zwift braucht man dafür einen viel größeren Leistungsüberschuss", so Erath.
Der Startschuss zur Zwift KISS Super League der Frauen, er hat vor Ort in Koblenz Lust auf mehr gemacht. Lust auf mehr solcher Events live an Ort und Stelle. Und Lust auf mehr von einem neuen Sport neben dem Radsport. Denn einen Fehler darf man nicht machen: Zwift und den eSport als Konkurrenzprodukt zu Straßenrennen zu sehen. In den kommenden neun Wochen sind die Frauen immer am Dienstagabend (MEZ) dran, die Männer mittwochs. Zu verfolgen sind die Rennen im Live-Stream auf Facebook.
Mal sehen, ob auch daheim vor dem Bildschirm der Funke so gut überspringt, wie vor Ort zwei Meter neben den Athletinnen.
Die komplette Facebook-Übertragung des ersten Rennens der Women's Zwift KISS Super League: