Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Ullrichs ungewollte Abschieds-Gala

Von Guido Scholl

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Jan Ullrich bei der Tour de Suisse 2006 | Foto: Cor Vos

15.05.2017  |  (rsn) - Im Jahr 2006 bestritt Jan Ullrich seinen zweiten und letzten Giro d’Italia. Es sollte sein vorletztes Profirennen überhaupt sein. Und er verabschiedete sich mit einem sensationellen Sieg von der Italien-Rundfahrt, der nur zu gut in das Bild des wohl wechselhaftesten Weltklasseradfahrers aller Zeiten passt.

Die italienischen Medien hatten Ullrich 1999 den Spitznahem "il Kaiser“ verpasst – in Anspielung auf Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer. Nachdem der Deutsche verletzt bei der Tour de France gefehlt hatte, gewann er damals die Spanien-Rundfahrt und anschließend in Verona die Weltmeisterschaft im Zeitfahren. Dass jemand seine Saison so eindrucksvoll ins Positive dreht, beeindruckte die Italiener offenbar.

Dem Giro machte "il Kaiser“ im Jahr 2001 seine erste Aufwartung. Aber Ullrich schickte die Botschaft vorweg, dass er sich nur für die Tour de France in Form bringen wolle. Immerhin zeigte er sich bei zwei Etappen in Ausreißergruppen und wurde jeweils Dritter. Im Zeitfahren ließ er es locker angehen und büßte auf Tagessieger Dario Frigo satte 7:39 Minuten ein. In der Endabrechnung lag Ullrich mehr als anderthalb Stunden hinter Giro-Gewinner Gilberto Simoni auf Rang 52.

Eine ähnliche Vorstellung erwarteten Fans und Fachwelt auch 2006. Ullrich war bei der Tour de Romandie hoffnungslos hinterhergefahren und froh, dieses Vorbereitungsrennen auf den Giro überhaupt beendet zu haben. Schließlich hatten ihn wochenlang Kniebeschwerden geplagt. Die Italien-Rundfahrt sollte der nächste Schritt zur Tour de France sein, wo sich Ullrich Hoffnungen machte, dass er noch einmal in Gelb in Paris ankommen könnte. Sein Dauerrivale Lance Armstrong, gegen den der Deutsche selten einen Stich bekommen hatte, war 2005 zurückgetreten.

Doch Ullrich hatte bei den beiden vergangenen Großen Schleifen auch gegen Ivan Basso den Kürzeren gezogen. Dafür gab es zwar Gründe – Krankheit und Stürze -, dennoch trauten viele dem Italiener zu, "Ulle“ zu bezwingen. Beim Giro trafen beide aufeinander, Basso trat jedoch an, um die Rundfahrt zu gewinnen.

Dass der Toursieger von 1997 diesmal aber erheblich wettbewerbsfähiger war, zeichnete sich früh ab. Aus dem Mannschaftszeitfahren ging seine T-Mobile-Equipe nämlich als "Sieger der Herzen“ hervor. Zwar unterlag die Magenta-Truppe Bassos CSC-Zug um eine Sekunde, das war aber einem Irrtum geschuldet.

Matthias Kessler ließ sich auf der Zielgeraden nach seinem letzten Führungs-Intervall zurückfallen und wähnte hinter sich einen weiteren Teamkollegen, der sich aber als Kameramotorrad entpuppte. Als der Deutsche seinen Fehler bemerkte, ging er aus dem Sattel und versuchte, zurück zu seinen vier Mitstreitern zu spurten: Jan Ullrich, Sergej Gontchar, Michael Rogers und Olaf Pollack. Die waren aber zu schnell, so dass Kessler mit wenigen Metern Rückstand über den Strich rollte. Da die Zeit erst bei ihm als fünftem Mann gestoppt wurde, rutschte T-Mobile auf Platz zwei.

Aber das Positive überwog. Gontchar übernahm Rosa, und Ullrich hatte einen großen Teil zu der Hochgeschwindigkeitsfahrt mit fast 57 Km/h beigetragen. Nach dieser 5. Etappe rangierte Ullrich auf Platz 26, nur 1:09 Minuten hinter Basso. Nach dem bergigen siebten Teilstück rückte er gar auf Position 22 vor. Am Folgetag verflog jedoch die Hoffnung, es komme womöglich zu einem Schlagabtausch zwischen "il Kaiser“ und Basso, als Ullrich bei der ersten Bergankunft 16 Minuten einbüßte und Basso den Tagessieg inklusive Rosa Trikot einfuhr.

Allerdings hatte es der T-Mobile-Profi Beobachtern zufolge locker angehen lassen. Von der Form her hätte Ullrich wohl weiter vorn ankommen können. Warum er darauf verzichtete, blieb unklar, aber er wurde fortan immer genauer beäugt. Während einer späteren Bergetappe war zu sehen, wie Ullrich am Anstieg im Eiltempo das halbe Feld passierte, um nach vorn zu seinen Teamkollegen zu fahren, die er unterstützen sollte. Spätestens da fiel auch seinen schärfsten Kritikern auf, dass der Olympiasieger von Sydney im Vergleich zu den Vorjahren bereits überraschend austrainiert wirkte.

Doch das deutlichste Signal, dass im Juli mit ihm zu rechnen sein würde, gab Ullrich am 18. Mai, als er das Einzelzeitfahren über 50 Kilometer in Pontedera gewann. Auf jener 11. Etappe startete er lange vor Basso, weil er in der Gesamtwertung weit zurückgefallen war. Und obwohl sich der Gesamtführende an den Zeiten des Kontrahenten orientieren konnte, gelang es Basso nicht, Ullrichs Zeit anzutasten. Um 28 Sekunden war der Italiener langsamer. Gontchar büßte mehr als eine Minute ein, und Zeitfahrweltmeister Michael Rogers sogar rund drei Minuten.

Mit diesem Sieg reihte sich Ullrich ein in die Phalanx derer, die nicht nur bei allen Grand Tours Etappen gewannen, sondern dies gar im Kampf gegen die Uhr schafften. Damit hatte er sogar Armstrong etwas voraus. Und die deutschen Fans waren sich nun sicher, dass Ullrich Basso in Frankreich mindestens auf Augenhöhe begegnen würde. Dazu kam es aber nie.

Sowohl Ullrich als auch Basso und der Zweite des damaligen Giro, Jose Enrique Gutierrez, waren nämlich in den Fuentes-Skandal verwickelt und durften nicht mehr zur Tour antreten. Ein großer Teil der Top-Stars des damaligen Radsport standen auf der Liste des Madrider Dopingarztes. Schon während des Giro wurde der Skandal bekannt, und auch der Name Jan Ullrich fiel in dem Zusammenhang. In einem TV-Interview sagte "Ulle“ dazu nur lapidar: "Skandale leben von Namen.“

Doch innerlich muss er in Panik gewesen sein – während der 19. Etappe führten er und sein Sportlicher Leiter, Rudy Pevenage, ein kleines Theaterstück auf. Ullrich mimte Rückenschmerzen, nachdem er tags zuvor noch im Etappenfinale eine späte Attacke lanciert hatte. Nach einigen Kilometern und mehreren Sprechstunden am Fenster des Begleitautos stieg „Ulle“ bei Pevenage ein und aus dem Giro aus. Dies sollte sein Abschied von den Grand Tours sein. Anfang 2017 erklärte er seinen Rücktritt vom Profiradsport.

Allein die Wechselhaftigkeit und Undurchsichtigkeit seines Giro-Auftritts spiegeln in Miniatur Ullrichs gesamte Karriere wider, die sich stets zwischen Gala und Gruppetto abgespielt hatte. Hinzu kam in beiden Fällen das verfrühte Aus, denn die Fachwelt war sich einig, dass Ullrichs Laufbahn ohne einen zweiten Toursieg unvollendet blieb.

Dass ihm sein Zeitfahrsieg beim Giro ebenso aberkannt wurde wie sein Gesamtsieg bei der Tour de Suisse wenige Wochen später, zeigt, wie wenig hilfreich solche nachträglichen Korrekturen sind. Wem sollte der Sieg in Pontedera denn sonst gebühren? Dem zweitplatzierten Basso? Der stand auch auf der Fuentes-Liste, deren 200 Namen übrigens nur zu einem Viertel Radprofis zugeordnet wurden. Aus welcher Sportart die anderen 150 Fuentes-Kunden stammten, versickerte im Filz von Madrid.

Basso gewann den Giro 2006 übrigens mit mehr als neun Minuten Abstand zu Jose-Enrique Gutierrez. Jahrzehntelang hatte niemand mehr einen so großen Vorsprung herausgefahren. Und es gelang auch danach bis heute niemandem.

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