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15.10.2016 | (rsn) - Mit beeindruckenden Leistngen imponierte Tony Martin in dieser Woche bei seinen Siegen im WM-Mannschafts- und Einzelzeitfahren. Sein Trainer Sebastian Weber und der 31-Jährige selbst erklärten nach dem Doppel-Gold, dass sie wegen der Leistungsdaten vor dem Rennen bereits zuversichtlich gewesen seien. Allerdings berichtete Weber radsport-news.com noch mehr, und zwar aus dem Vorjahr: Falsche Leistungsdaten brachten damals jenen Ball ins Rollen, der auch Gedankenspiele um eine neue Sitzposition des Zeitfahr-Asses auslöste.
Rückblende: Am 23. September 2015 betrat ein völlig niedergeschlagener Tony Martin die Mixed Zone in Richmond. Der 30-Jährige konnte sich und der Welt nicht erklären, warum anstatt der anvisierten vierten Goldmedaille im WM-Einzelzeitfahren nur Rang sieben herausgesprungen war. "Ich habe keine Antwort. Ich habe mich gut gefühlt, wollte Gold und war mir auch sicher, es zu gewinnen", sagte er damals. "Das war sicher eines der schlechtesten Zeitfahren meiner letzten fünf bis sechs Jahre. Da steht erstmal nicht das Ergebnis im Vordergrund, sondern wirklich die Analyse und die große Frage, was heute passiert ist."
Was folgte, war ein Winter der Umstellung mit neuer, aerodynamischerer Sitzposition - und trotzdem eine Saison 2016, in der es kaum Besserung gab. Tiefpunkt war das Olympia-Zeitfahren von Rio: Platz 12, 3:18 Minuten hinter Fabian Cancellara. An Martin nagten mehr und mehr Selbstzweifel und öffentlich wurde darüber spekuliert, ob der Deutsche seine größten Fähigkeiten eingebüßt habe. 'Zurück auf Anfang', war die Antwort, die sich Martin selbst nach den Olympischen Spielen gab. Er wechselte auf seine alte Zeitfahrposition zurück und am 12. Oktober 2016 hat sich nun herausgestellt, dass dieser Gedanke Gold wert war, WM-Gold.
"Wer mich kennt weiß, dass ich sehr, sehr hart für meinen Erfolg arbeite. Da nagt es extrem an mir, wenn ich die Ziele, die ich mir setze, nicht erreichen kann", sagte Martin nach dem Gewinn seines vierten WM-Titels im Einzelzeitfahren in Doha, mit dem nur noch die Wenigsten gerechnet haben. Doch Martins Trainer Sebastian Weber erklärte radsport-news.com am Abend im Teamhotel, dass er und sein Schützling das Erklimmen der obersten Stufe des Podiums sehr wohl für möglich hielten.
"Wir saßen gestern Abend genau hier und haben uns unterhalten. Von den Werten her waren wir uns einig, dass es möglich ist und eine sehr gute Chance besteht, Weltmeister zu werden", so Weber in der großen Eingangshalle des Ritz Carlton etwas nördlich der Insel Pearl über den Vorabend des Rennens. Auch Martin sagte nach seinem Husarenritt zu Gold: "Insgeheim wusste ich, dass ich hier gewinnen kann, wollte es aber nicht so nach außen kommunizieren." Aber woher wollten die Beiden das wissen?
Im modernen Radsport dreht sich viel um Leistungsdaten. Gerade Martins Trainer Weber ist im positiven Sinne ein Zahlenfetischist, analysiert alles ganz genau und berechnet sowohl die Leistungen seiner Schützlinge als auch oft die der Konkurrenz. So war ihm etwa 2014 in Ponferrada wegen der Anstiege bereits vorher bewusst, dass es sehr schwer bis kaum möglich war, Bradley Wiggins zu bezwingen. Diesmal aber machten die Daten zuversichtlich.
"Tonys Werte vom Mannschaftszeitfahren waren knapp unter dem Niveau, auf dem sie sonst waren", verglich Weber nun mit vergangenen WM-Titeln, ohne genaue Zahlen zu nennen. "Und das Bisschen weniger war wahrscheinlich durch die Hitze hier." Auch wenn Weber diesmal keine Vergleichswerte der Konkurrenz hatte, weil man sich im Martin-Lager keinen Druck machen, sondern nur auf sich selbst konzentrieren wollte, bestätigte sich die Vermutung: Martins Werte reichten für den Sieg.
Zurück nach Richmond. Auch 2015 gingen Weber und Martin vor dem WM-Zeitfahren davon aus, dass der Deutsche gut zwei Monate nach dem Schlüsselbeinbruch, der ihn im Gelben Trikot aus der Tour de France warf, schon wieder um Gold würde kämpfen können. Die Wattwerte machten auch damals zuversichtlich. Deshalb war die Ratlosigkeit umso größer, als es am Tag X nicht reichte. Martin trat gute Werte, konnte in Sachen Geschwindigkeit aber nicht mit den Besten mithalten. Eine logische Schlussfolgerung: Die Aerodynamik machte den Unterschied zu seinen Ungunsten. Nach drei Jahren ohne großartige Entwicklungsarbeit in diese Richtung schien das ein naheliegender Grund zu sein.
"Es gab keinen Windkanaltest mehr, er hat nicht mehr auf der Bahn getestet. Also haben wir gesagt: Okay, dann müssen wir daran jetzt arbeiten und unsere Hausaufgaben machen", so Weber. Schließlich hatte die Konkurrenz längst neue Laufräder, neue Rahmen, neue Sitzpositionen mit tieferen oder höheren Händen sowie einem weit unten positionierten Kopf ausprobiert und hatte damit schlussendlich den jahrelangen Überflieger überholt.
Also arbeitete auch das Martin-Lager nun an aerodynamischen Verbesserungen und fand im Winter eine neue Position, die, so Weber "aerodynamisch sehr signifikant schneller" war. Im reinen Aerodynamik-Test habe sie 25-30 Watt gebracht - Welten. "Dann gab es aber auch Schwierigkeiten, weil es fast bis zur Deutschen Meisterschaft gedauert hat, bis die neue Position auch wirklich auf dem Zeitfahrrad realisiert werden konnte, weil Material teilweise erst angefertigt werden musste. Es war immer ein Zentimeter hier, zwei Zentimeter da anders", erklärte Weber. "Und man sagt, dass es bei einem solchen Positionswechsel zwei Monate dauert, bis man dieselbe Wattleistung tritt."
Doch dieser Effekt stellte sich nicht ein, Martin kam im Wettkampf nicht mit den Veränderungen zurecht, konnte nicht dieselbe Kraft entwickeln wie vorher. "Dass die Position im Nachhinein nicht gepasst hat, steht außer Frage. Aber dass wir daran gearbeitet haben, ist gut", sagte Weber nun trotzdem. Schließlich sei im Zuge der Aerodynamik-Arbeit zum Beispiel auch auf einen neuen, besseren Rennanzug gewechselt worden, von dem man nicht wieder zurückwechseln musste.
Bleibt trotzdem die Frage, warum Martin mit der alten und nun wieder aktuellen Sitzposition in Richmond hinterherfuhr und alle Veränderungen überhaupt erst angestoßen wurden. Denn eigentlich hätte er mit den vorliegenden Leistungsdaten damals ja auf Weltmeister-Niveau liegen sollen. War Martin damals also vielleicht doch einfach noch nicht völlig vom Tour-Sturz erholt? Kann man vielleicht sogar sagen, dass ein falscher Schluss gezogen wurde und die Aerodynamik- und Sitzpositions-Thematik auf Grund falscher Vermutungen angegangen wurde?
Weber grinste ob dieser konkreten Nachfrage und erklärte dann: "Doch, das kann man sogar sagen. Die Wattmessung, also die Leistungsdaten von der Tour im letzten Jahr bis zur damaligen Weltmeisterschaft, waren nicht korrekt. Und das hat die gesamte Standortbestimmung und das Training dann in die falsche Richtung gelenkt."
Man habe sich auf fälschlicherweise zu hoch angezeigte Leistungsdaten verlassen und sei glücklich gewesen, dass die Verletzungspause einen so geringen negativen Effekt hatte. Erst im Spätherbst 2015, als die neuen Aerodynamik-Tests liefen, wurde dieser Fehler bemerkt. Zu spät für Richmond, aber rechtzeitig für Doha.
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