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19.12.2014 | (rsn) – Zum Jahresabschluss schildern die Mitglieder der Redaktion von Radsport News ihr Radsport-Ereignis 2014. Wolfgang Brylla, der für uns vor allem über den polnischen Radsport schreibt, berichtet über „einen historischen Sonntag im September".
An diesen Tag werde ich mich noch lange erinnern. Es war ein Sonntag im September, die Sonne schien bei gemütlichen 20 Grad, der Sommer neigte sich schon dem Ende zu. Viele wollten die letzte Gelegenheit nutzen, um in die Stadt oder ins Grüne zu fahren, abzuschalten und zu chillen. Ich gehörte weder zu den Flaneuren noch zu den Naturliebhabern.
Rein dienstlich saß ich an diesem historischen Sonntag in der polnischen Bahn und befand mich auf dem Nachhauseweg. Am liebsten jedoch wäre ich ganz wo anders gewesen. Wo? Im weit entfernten spanischen Ponferrada. Dort, wo in diesem Jahr die Straßenweltmeisterschaften ausgetragen wurden. Dort, wo Michal Kwiatkowski sich sensationell das Regenbogentrikot überstreifen konnte.
Stattdessen saß ich im Zugabteil eingeklemmt zwischen einem
Jugendlichen mit Kopfhörern, der eine Mischung aus Trash Metal und
Poprock hörte, und einem älteren Mann, der zuerst seine Nase in die
Samstagsausgabe der lokalen Zeitung steckte und sich später ein kleines
Nickerchen gönnte. Glücklicherweise konnte ich noch einen Sitzplatz
ergattern, die anderen, die später einstiegen,
hatten weniger Glück.
Ich blickte auf den Aufkleber am Fenster, der hoch und heilig versprach, dass man hier problemlos WLAN empfangen könnte. Super, dachte ich mir, schnell ins Netz und in die Live-Übertragung des WM-Straßenrennens. Die Freude war leider verfrüht. Nix mit WiFi, nix mit Internet, nix mit Michal Kwiatkowski.
Da musste ich improvisieren. In Stettin hockte mein Freund und Helfer
Tomasz vor der Glotze und hielt mich auf dem Laufenden. In der Schlussphase
des Rennens bekam ich von ihm alle zwei Minuten eine SMS.
„Kwiatek greift vor Mirador an“ – so lautete eine Nachricht. Im
Minutentakt folgten die nächsten. „3 Kilometer, Kwiatek, 8 Sekunden
Vorsprung“. Ob er allein vorne sei, wollte ich von Tomasz erfahren.
„Ja“, dessen kurze, aber vielsagende Antwort.
Der Zug fährt in einen Tunnel, mein Handy verliert den Empfang. Eine lange Funkstille. Meine Nerven werden strapaziert - was ist los, möchte ich wissen, wie weit ist es noch, wer setzt zu einer Konterattacke an? Tomasz schweigt, aber dann: „Er hat es geschafft!“. Die Erlösung. Ich werfe meine Hände hoch, der Metal-Fan neben mir schaut mich verstört an und fragt, ob alles in Ordnung sei. „Klar, Flowerman hat Gold!“, erwidere ich. „Aha“, sagt James Hetfield in spe und vertieft sich wieder in seine Gitarrenriffs.
Ja, diesen für den polnischen Radsport historischen Sonntag werde ich nie vergessen. Jeder, der sich für diese Sportart interessiert, die an der Weichsel bis dato scheinbar marginalisiert wurde, wird diesen Tag nie vergessen. Denn an diesem Sonntag in der Provinz Leon, quasi in der Pampa, wurde polnische Radsportgeschichte geschrieben. Und ich war nicht dabei, ich musste in diesem Jahr auf die Teilnahme und Berichterstattung vor Ort verzichten. Zu lang die Reise, zu teuer die Unterkünfte und die Verpflegung. Eine Mafia soll die größeren und kleineren Hotels in Schach gehalten und die Preise bestimmt haben. Für eine Woche Ponferrada hätte ich mir auch einen Zwei-Wochen-Urlaub auf Mallorca mit Rad leisten können. Selbstverständlich in der Hochsaison.
Im Jahr 2000 konnte sich Zbigniew Spruch im französischen Ploauy über die Silbermedaille freuen. Man hatte den Eindruck, dass dieses Ergebnis für die Ewigkeit bleiben würde, dass es von keinem anderen Polen getoppt werden könnte. In der Hochphase des Dopings spielten die polnischen Rennfahrer keine wichtige Rolle im internationalen Peloton, was nicht heißen soll, dass sie alle clean gewesen waren. Man erwähne nur Cezary Zamana oder Piotr Przydzial, die sich auch im Ausland einen Namen gemacht haben, nur um später angeklagt und wegen Dopings gesperrt zu werden.
Nein, die Polen waren keine Heiligen. Aber nach den Ermittlungen gegen Lance Armstrong, nach den Geständnissen seiner ehemaligen Teamkollegen und nach der Einführung von zahlreichen neuen Testmethoden gehörte die EPOche der Vergangenheit an. Die Karten wurden neu gemischt, auch die talentierten jungen Rennfahrer aus Polen bekamen ihre Chance. Mit vollem Kraft- und Herzeinsatz, mit Leidenschaft und Bestimmung ordneten sie ihr Leben dem Radsport und dem Erfolg unter, der noch kommen sollte.
Kwiatkowski verließ sehr früh sein Land, um in Spanien für eine Amateurmannschaft zu fahren. Rafal Majka, der 2014 zwei Bergetappen der Frankreich-Rundfahrt und die Bergwertung gewann, wanderte nach Italien aus. Beider Anfänge waren alles andere als leicht. Nur mit Kampfgeist und Hartnäckigkeit konnten sie sich durchsetzen. Auf Kwiatkowski, 2008 schon Junioren-Weltmeister im Zeitfahren, wurde Patrick Lefevere aufmerksam. Der gewiefte belgische Team-Manager schätzte ihn sogar höher als Peter Sagan ein. Nach der Zwischenstation bei RadioShack unterschrieb der Pole einen Vertrag bei Lefevere.
Majka dahingegen überzeugte während eines Wintertrainingslagers Bjarne Riis, der beeindruckt von der Ausdauer und Physis des Kletterspezialisten war. Majka soll der einzige gewesen sein, der in einem Anstieg das Tempo von Alberto Contador mitgehen konnte. Vor ein paar Jahren bewunderte der junge Krakauer noch „El Pistolero“, jetzt sind sie Mannschaftskameraden.
Paradoxerweise fehlte eben dieser Majka in Ponferrada. Zu lang und zu kräftezehrend war für ihn die abgelaufene Saison. Majka wollte sich nach dem Giro d’Italia, der Tour de France und der Polen-Rundfahrt ein wenig erholen und die Hochzeit mit seiner Verlobten Magda vorbereiten. Kwiatkowski hat auch eine Freundin, aber er denkt noch nicht an die Ehe. Angepeilt hatte er eine ganz andere Liaison. Nämlich die mit dem Regenbogentrikot.
Wenn sich jemand die Mühe machen und die Einträge auf polnischen Radsport-Foren vor der WM durchsehen würde, er wäre erstaunt, dass man dort Kwiatkowski so wenig zugetraut hatte. Die einen wiesen darauf hin, dass der 24-Jährige wohl ausgepumpt sei nach dem Misserfolg bei der Tour, die anderen meinten, dass die ganze Saisonplanung verkorkst gewesen sei und man die Höhepunkte falsch gewählt habe.
Kwiatkowski las sich diese und ähnliche Posts nicht durch. Seine volle Konzentration galt der Rad-WM, seinem größten Highlight des Jahres. Denn wenn nicht jetzt, wann dann sollte er um die Goldmedaille kämpfen und seiner Konkurrenz den Rücken zeigen? Der Rundkurs in Ponferrada schien wie für ihn gemacht zu sein. Die Veranstalter boten eine in technischer Hinsicht einfache, aber wellige Strecke mit einigen Hügeln im Finale an. Kwiatkowski kam solch ein Streckenprofil entgegen.
Für die hohen Berge hat er nicht das entsprechende Gewicht, die Körperstatur und nicht den passenden Fahrstil. Statt permanent zu beschleunigen, mag sich Kwiatkowski lieber an seinen Fahrstil halten. Er ist durch und durch Stratege, der eine Rennsituation trotz des jungen Alters brillant lesen kann. Er verschießt nicht sein ganzes Pulver, wenn er bemerkt, dass die Hauptgegner schon auf und davon sind. Er verwickelt sich nicht in sinnlose Spielchen an der Spitze. Der Youngster weiß genau, wozu er in der Lage ist, und wann er besser aufgeben muss.
An diesem Sonntag war ihm klar, dass er nur als Solist das Rennen für sich entscheiden würde können. Im Gegensatz zu vergangenen Jahren hatte das polnische Nationalteam diesmal einen einzigen Kapitän, für den sich alle einspannten: Bartosz Huzarki, Michal Golas, Michal Podlaski, Pawel Poljanski, Maciej Bodnar, Przemyslaw Niemiec, Bartłomiej Matysiak und Maciej Paterski opferten sich für Kwiatkowski auf. Wie die Musketiere standen sie hinter ihrem Mann in der weiß-roten Trikotrüstung. Sie fuhren sich die Seele aus dem Leib, waren die ganze Zeit auf dem TV-Bildschirm zu sehen als diejenigen, die Verantwortung übernahmen. Kwiatkowski musste „nur“ das I-Tüpfelchen setzen.
Wird man sich fragen, woher ich das weiß, wenn ich doch das Straßenrennen nicht verfolgen konnte und nur auf Tomasz und mein Handy angewiesen war? Das Rennen habe ich mir digital aufgenommen. Und ich werde es nicht überspielen sowie ich die SMS nicht löschen werde. Sie sind Zeugen eines historischen Sonntags.
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