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Im Würgegriff der Lügner und Leugner

Von Andreas Schulz, Eurosport

Foto zu dem Text "Im Würgegriff der Lügner und Leugner"
| Foto: ROTH

26.07.2013  |  (rsn) – Nein, es ist überhaupt nicht egal, wer vor 15 Jahren betrogen hat. Aber dass jetzt alles egal ist, was vor 15 Tagen geschah, ist extrem ungerecht. Die lügenden Ex-Profis sind kaum erträglich, die Verallgemeinerungen bezüglich des Radsports aber auch.

Die aktuelle Generation hat nur eine Chance, wenn die alte Garde endlich reinen Tisch macht - und nicht mehr geleugnet wird, dass die Leistungen von 2013 nicht automatisch ebenso verseucht sein müssen. Aus diesem doppelten Würgegriff muss sich der Radsport befreien.

Kittel? Kennt den noch wer? Es ist noch keine Woche her, dass die 100. Tour mit einem aus deutscher Sicht einmaligen Viererpack in der Abenddämmerung ihr Ende fand. Gesprochen wird jetzt aber nur noch über Sprinter wie Zabel, Cipollini oder O’Grady.

Es ist wichtig und richtig, die Skandale der Vergangenheit aufzuklären. Aber den Radsport jener Jahre mit dem heutigen gleichzusetzen ist etwa so treffsicher wie die Überschriften britischer Boulevardblätter, die bei jedem DFB-Spiel auf der Insel Begriffe wie Panzer, Blitzkrieg und Pickelhaube auspacken.

Niemand, der etwas Ahnung vom Radsport hat, würde behaupten, dass die Zustände sich nicht seit 1998 massiv gebessert haben. Nur geht das aktuell oft unter.

Das Schweigen der Männer
Klar: Wenn jetzt viele große Namen als EPO-Betrüger auftauchen, ist das ein mittleres Erdbeben. Jetzt liegen plötzlich stärkste Indizien gegen ein paar einstige Helden auf dem Tisch, die uns mit großer Ausdauer entweder Salamischeiben serviert haben oder entgegen aller Logik gleich ganz auf verfolgte Unschuld machten und teilweise noch machen.

Wie sie damit klarkommen, wo sie damit durchkommen – das werden wir nun beobachten können. Mir sind die Gründe für Schweigen wie Scheibchenschneiden fast egal, nur bitte soll keiner dieser Herren mehr sagen, es sei unschön, dass Doping mehr Schlagzeilen mache als der eigentliche Sport!

Hätten Zabel, Jalabert, Ullrich, Olano oder Cipollini vor Jahren reinen Tisch gemacht (Anlässe gab's ja fast im Wochentakt), müsste man sich nicht noch heute an ihnen abarbeiten. Gerade weil sie das nicht taten, sind ihre Namen und Fehler noch immer schlagzeilenträchtiger als aktuelles Renngeschehen.

Malen nach Zahlen
Allerdings, auch das muss mal gesagt sein: Viele schnappen sich Liste und Testprotokolle, verbinden dann Nummern mit Namen wie beim "Malen nach Zahlen" und dann wird losgeledert. Aber es darf nicht vergessen werden, dass es sich bei der Liste nicht um einen über alle Zweifel erhabenen Beweis handelt. Beschuldigten Fahrern bleibt kaum eine Möglichkeit, gegen den Befund vorzugehen.

Darauf hat schon während der Tour Doping-Experte Damien Ressiot von L’Equipe (sicher kein Weichspüler) aus gutem Grund hingewiesen. Denn ja, auch wenn es nicht ins simple Bild passt: Laborfehler passieren, wenn auch selten.

Gerade deshalb ist es ja zum Glück so, dass gerade die größten Namen auf der Liste mehrfach getestet und erwischt wurden, da wird die Luft dann doch viel dünner. Dabei lohnt die kurze Erinnerung an Lance Armstrong, dessen sechs positive Proben aus dem kaum mehr erwähnten Jahr 1999 ein Rekord bleiben, den ihm keiner genommen hat.

Nur am Rande: Wer nicht auf der Liste stand, ist nicht automatisch sauber. Und wer negativ getestet wurde, wie etwa Stuart O’Grady sogar zweimal, kann dennoch betrogen haben. Deshalb habe ich auch vor seinem Geständnis durchaus Respekt. Viele andere hätten sich hinter den beiden sauberen Proben versteckt und auf einen Verfahrensfehler beim dritten Test, der auch nicht in allen drei Analysevarianten positiv war, plädiert.

Warten wir ab - es wird sicher noch Fahrer geben, die längst nicht so direkt mit den Vorwürfen umgehen. Was nicht heißt, dass ich O’Grady unbedingt glaube, dass nach Juli 1998 alles sauber seinen erfolgreichen Lauf nahm…

Die anderen Wahrheiten der Liste
Mich haben die letzten Tage an die Veröffentlichung der Dopingverdachts-Liste der UCI im Mai 2011 erinnert. Jeder suchte nur die Namen und ihre Werte, um Hintergründe oder weiterführende Aspekte des Dokuments ging es kaum.

So ist es auch jetzt. Was etwa kaum erwähnt wird, ist der eklatante Unterschied der Nachtests der Tour 1999 zu denen von 1998. Die Zahl der positiven EPO-Proben ging massiv zurück, jene der sauberen Tests erhöhte sich stark. Egal wie man angesichts der unterschiedlichen Kriterien auswertet: Die eine Zahl halbiert sich, die andere verdoppelt sich. Das passt nicht ins gern gezeichnete tiefschwarze Bild ohne Grauzonen, dabei ist es nicht schwer nachzuvollziehen: Nach den Polizeieinsätzen des Vorjahres waren Fahrer und Teams dann weitaus vorsichtiger - obwohl EPO noch immer im Test gar nicht nachweisbar war.

Und wie wir ja durch Tyler Hamilton erfahren haben, betrieb US Postal 1999 per "Motoman" einen extremen Aufwand, um sich heimlich mit EPO zu versorgen. Wobei wir bei Armstrong wären, der jetzt dreist versucht, sich als irgendeinen Fahrer jener Jahre darzustellen. Doch er ist es gewesen, der für sich und mit seinem Team ein gnadenloses Wettrüsten neu anheizte, als nach der Festina-Affäre tatsächlich eine Chance auf einen gewissen Wandel bestand. Seine Skrupellosigkeit verschafft ihm damals wie heute eine Sonderstellung - dass er sich jetzt als Opfer geriert, ist schwer erträglich.

Hinschauen statt Holzhammer
Ebenso schwer erträglich wie die Holzhammer-Methode, mit der nun wieder auf den Radsport eingedroschen wird. Dabei ist der Radsport des Jahres 1998 von dem heutiger Tage weit entfernt. Diese Veränderung zu leugnen ist skandalös. Um es ganz kurz zu machen: Ist der Radsport heute sauber? Quatsch. Ist er viel sauberer als vor 15 Jahren? Sicher.

Damit wir uns richtig verstehen: Zu rosig sollte man das Bild nicht malen. Ich halte etwa die Einschätzung von David Millar für übertrieben, der "98% der Fahrer" sauber sieht.

Und natürlich gibt es damals wie heute nicht nachweisbare Mittel und Verfahren, hinken die Doping-Fahnder den Betrügern hinterher. Aber dass das Netz im Radsport engmaschiger geworden ist, kann niemand ernsthaft bestreiten. War es 1998 noch eher ein Lasso, ist es langsam auf dem Weg zum Sieb. Es wird nie dicht sein, aber es ist viel passiert. Ohne das nun alles aufzählen zu wollen: Kaum ein Sport unterwirft seine Athleten einem solchen Regime, wie der Blick über den Tellerrand ganz aktuell schnell beweist.

Und, äh, nur zur Erinnerung: Wer jetzt mit der Munition der Nachtests von 1998 auf den Radsport schießt, sollte nicht vergessen: Genau die Möglichkeit solcher Nachtests hat heute eine abschreckende Wirkung. Wer jetzt noch unter dem Radar bleibt, kann später dennoch überführt werden. Da überlegt man bei aller Dreistigkeit lieber zweimal, ob man das Risiko eingeht.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen 1998 und 2013 ist, dass heute ein Radprofi seinen Job auch sauber machen kann. Es gibt Teams, die genau solche Fahrer wollen, Veranstalter, die solche Teams unterstützen, Sponsoren, die nicht nach Sensationen um jeden Preis lechzen, Medien und Fans, die nicht mehr blind alles bejubeln.

Saubere Sieger als Gegenbeweis
Wenn ein Marcel Kittel vier Tour-Etappen holen kann, ein Daniel Martin den Klassiker in Lüttich und ein Pyrenäen-Teilstück der „grande boucle“ abräumt, ein Jean-Christophe Peraud ohne Sturz in die Top Ten der Gesamtwertung gefahren wäre und ein Tony Martin der beste Zeitfahrer der Welt ist – dann kann es um den Radsport nicht so schlecht bestellt sein. Und bei dieser Auswahl tut man vielen anderen sauberen Sportlern im Feld Unrecht.

Das Doping der unsauberen letzten Generation als Beweis für die automatische Verseuchtheit aller aktuellen Profis zu nehmen ist kein sauberer Vergleich. Da müssen dann schon konkrete Elemente für den jeweiligen Einzelfall her. Möglich, dass Ronaldo im WM-Finale 1998 wegen fragwüridger medizinscher Behandlung neben sich stand – aber wer würde deshalb Neymars Auftritte wie selbstverständlich damit in enge Verbindung bringen?

Ja, im Peloton stecken noch immer Betrüger – weit vorne wie auch im anonymen Mittelfeld. Aber Doping als absoluter, unumgänglicher Systemzwang wie 1998 ist vorbei.

Richtig ist, dass noch immer zu viele Vertreter des alten Systems zu viel Einfluss im Radsport haben. Wer noch Anfang 2013 sein Team angelogen hat wie Jeroen Blijlevens, verliert mit Recht seinen Job. Und es sollte noch etliche weitere treffen in den nächsten Wochen. Aber nicht jeder Ex-Doper ist ein unbelehrbarer Betrüger: Teamchefs wie Vaughters, Riis, Winokurow oder Marc Madiot über einen Kamm zu scheren ist Blödsinn. Jene aus dem Sport zu entfernen, die weiter Teil des Problems sind, ist die zentrale Aufgabe für den Radsport.

Dazu ist ein Wechsel – und ein anschließender echter Wandel – beim Weltverband unumgänglich. Kleine Frage am Rande noch: Welcher Rennstall hat schon alle Mitarbeiter auf eine nun oft geforderte "zero tolerance policy" getrimmt? Ja, Team Sky. Da lachen manche (vielleicht mit Recht). Aber mit Yates, Wauters, Julich trennte man sich von drei wichtigen Stützpfeilern des Teams – und so saß mit Nicolas Portal ein 34-jähriges Greenhorn am Steuer des Teamwagens hinter Chris Froome.

Bundestag, übernehmen sie!
Ich bin, überraschend, mit den schlappen 1000 Seiten des Senats-Berichts noch nicht durch. Aber an eines sei erinnert: Nein, es ging nicht nur um den Radsport und nicht nur um eine alte Liste.

Wie immer man zu den 60 Vorschlägen des Ausschusses steht, die zwischen Wunschdenken, Banalitäten und Revolution alles beinhalten – eine solche Bestandsaufnahme wie in Frankreich täte dem deutschen Sport sehr gut.

Und bei allem Wirbel um Jalabert, Durand und Co.: In Frankreich wurde auch sehr genau registriert, dass der Fußball alles andere als eine rühmliche Rolle beim Thema Doping spielt, die Tennisspieler sich unschönen Fragen stellen müssen und der im halben Land sehr populäre Rugby-Sport ein massives Problem hat.

Schade, dass einige der interessantesten "Gäste" des Senats hinter verschlossenen Türen vernommen wurden. Aber da könnte sich ja der Sportausschuss des Bundestages unsterblich machen mit einer mutigen Aufarbeitung in aller Öffentlichkeit statt den zuletzt üblichen Lachnummern.

Berlin, übernehmen sie!

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