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Ventoux: Mehr als Tom Simpson

Von Andreas Schulz, Eurosport

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| Foto: ROTH

14.07.2013  |  (rsn) - Kein Berg wie jeder andere - auf keinen Anstieg der Tour trifft das so zu wie auf den Mont Ventoux. Der Anstieg ist viel mehr als nur der Ort des Dramas um Tom Simpson, auf das er in Deutschland oft reduziert wird.

Um für die längste Etappe der Tour gerüstet zu sein, gibt’s hier jene Geschichten zum "Giganten der Provence", die sonst kaum erzählt werden. 14 Mal war die Tour dort bisher zu Gast, acht Mal endete eine Etappe dort. Aber auch andere Rennen, wie die Dauphiné, Paris-Nizza oder die inzwischen verschwundene Tour du Vaucluse haben dort die Fahrer vor eine der größten Prüfungen überhaupt gestellt.

An manche Geschichten erinnern sich Rad-Fans auf Anhieb – je nach Alter zieht sich die Grenze aber immer früher… Marco Pantanis Sieg (oder Lance Armstrongs Geschenk, je nach Belieben) ist noch vielen vor Augen: Schließlich war es der erste Erfolg des "Piraten" nach seinem Giro-Ausschluss im Jahr davor. Treue Radsport-Fans wissen auch, dass Richard Virenque und Denis Menchov in ihrer Karriere mehrfach am Gipfel des Ventoux jubeln konnten. Gerade das Solo des Franzosen von der Tour 2002 passt perfekt zur Etappe 2013, weil es auch damals ein flacher "Marathon" war, den das Feld als Anfahrt zum beinharten Schlussanstieg absolvieren musste.

Und dass Tony Martin 2009 beim letzten Ventoux-Abenteuer der Tour nur wegen fehlender Kenntnis der letzten Meter einen großen Sieg verpasste, ist unvergessen. Aber hier gibt es noch ein paar andere Ventoux-Stories, die nicht jeder sofort parat hat:

Held am Hausberg: Meine aktuelle Lieblingsgeschichte ist die von Eric Caritoux, schon allein weil er der Lokalmatador am Ventoux ist, wo er die Weinberge seiner Familie pflegt. Doch neben der harten Arbeit, die er nach dem Tod des Vaters mit 14 Jahren übernahm, kann der Franzose noch auf eine tolle Profi-Karriere zurückblicken. Heimliche Highlights abseits der großen Siege wie dem Gewinn der Vuelta 1984?

Natürlich Triumphe am Hausberg! Etwa bei der Rundfahrt der Region, der "Tour du Vaucluse", wo der Ventoux oft auf dem Programm stand. So auch 1982, als es zum Abschluss ein Bergzeitfahren hinauf zum "Chalet Reynard" gibt, also die schwersten 15 Kilometer des Anstiegs. Und der stolze Neo-Profi Laurent Fignon kann nicht fassen, dass ihm, dem großen Talent, ein Amateur wie Caritoux zwei Minuten und den Gesamtsieg abnimmt.

"Er hat mich seit diesem Tag nie wieder gegrüßt, er war überzeugt, dass ich mich an einem Auto festgehalten habe", erinnert sich Caritoux noch heute. Doch er gibt seine Antwort damals postwendend: "Im nächsten Jahr habe ich ihm auf der gleichen Strecke noch mehr Zeit abgenommen!"

Geschenk am Gipfel: Nur die ganz großen Namen gewinnen am Ventoux-Gipfel? Das stimmt mit Blick auf die Tour und fast immer auch bei der Dauphiné. Doch 2009 schlägt die Stunde eines Helfers, der bis dahin keinen einzigen Profisieg feiern konnte - und auch seitdem nicht mehr siegt.

Dabei ist die Qualität von Sylwester Szmyd unbestritten, vielen Assen hat er schon als selbstloser Helfer gerade in den Bergen gedient. An diesem 11. Juni aber hat er freie Fahrt, weil Liquigas-Kapitän Ivan Basso kränkelt. Also zieht der Pole sieben Kilometer vor dem Gipfel mit Alejandro Valverde los. Doch auf dem letzten Kilometer packt Szmyd die Angst vor dem Sieg - er kommt kaum noch vom Fleck:

"Mein ganzes Leben lang war ich Edelhelfer und als ich merkte, dass ich gewinnen könnte, hat mich das furchtbar gestresst", gesteht er, "ich hätte mich fast übergeben, meine Beine waren total blockiert." Doch Valverde zeigt sich als Gentleman, er wartet, macht dem Begleiter Mut und überlässt ihm den Sieg.

Valverde übernimmt Gelb und gewinnt die Rundfahrt. Doch sechs Wochen später, als die Tour zum Ventoux kommt, fehlt er: Seine Dopingsperre auf italienischem Boden hält ihn von der "grande boucle" fern, die in jenem Jahr einen Abstecher nach Italien macht…

Drama mit Dynamit: Nur weil Tom Simpson diesmal nicht großes Thema ist, sollen hier nicht allein fröhliche Heldensagen ausgebreitet werden - das hätte mit der Realität des Radsports wenig zu tun. Doch während immer wieder vom Drama der Tour 1967 erzählt wird, ist der furchtbare Vorbote in Deutschland fast vergessen.

Dabei hätte nicht viel gefehlt und schon 1955 wäre ein Fahrer wie später Simpson an der Mischung aus Hitze, Amphetaminen, Überlastung und Ehrgeiz gestorben. Denn auf der 11. Etappe ist es Jean Malléjac, immerhin Tour-Zweiter von 1953, der auf halbem Weg zur Passhöhe kollabiert und im Straßengraben von Rennarzt Pierre Dumas gerettet wird.

Ferdi Kübler bricht nach einer Attacke im Anstieg später völlig ein, steigt dreimal ins Teamauto, fährt dann aber doch weiter und schließt sich später im Hotelzimmer ein. Wer klopft, dem wird gedroht: "Ferdi ist mit Dynamit geladen, Ferdi wird bald explodieren!" Die Tour-Leitung lässt erstmals die Zimmer der Rennfahrer kontrollieren, findet ein Arsenal an Medikamenten. Wenn damals schon energischer durchgegriffen worden wäre, hätte Simpsons Tod vielleicht verhindert werden können.

Ein Gigant bezwingt den Giganten: 1,94m groß, 85kg schwer – unpassender kann man für den Ventoux nicht gebaut sein. Doch das kann Eros Poli am 18. Juli 1994 nicht stoppen. Nach 50 von 231 Kilometern macht sich der Italiener als Solist auf den Weg nach Carpentras, kommt mit 25 Minuten Vorsprung an den Fuß des Ventoux und verliert dann, wie von ihm geplant, eine Minute auf jedem Kilometer bergan.

Doch mit knapp fünf Minuten Vorsprung am Gipfel und ordentlich Gewicht für die Abfahrt vollendet der Cipollini-Helfer eines der verrücktesten Soli der Tour-Geschichte. Ein kleiner Trost für Italiens Sportfans, die am Tag zuvor das WM-Finale im Fußball verloren haben.

Dramatisch endet die Etappe fast für Miguel Indurain, der in der Abfahrt zweimal eine Kurve falsch erwischt und einen Sturz den Abhang hinunter nur um wenige Zentimeter vermeidet. Am Rande bleibt noch festzuhalten, dass ein junger Amerikaner namens Lance Armstrong sich den Ventoux spart und die Tour an diesem Tag verlässt.

Daneben kommt es noch im Anstieg zu einem handgreiflichen Duell zwischen dem Mexikaner Raul Alcala und Neil Stephens aus Australien. Beide haben noch ausreichend Kraft zu einem Faustkampf und Alcala verpasst Stephens eine so harte rechte Gerade, dass er dem Gegner die Nase bricht.

Held für einen Tag: 1987 fordert die 18. von insgesamt 25 Etappen die Tour-Fahrer erstmals seit 1958 wieder zum Zeitfahr-Duell mit dem Ventoux. Für Jean-Francois Bernard wird es der größte Tag seiner Karriere, auch wenn ihn kaum ein Experte an diesem Sonntag auf der Rechnung hat.

Aber der Franzose und sein Teamchef Paul Köchli haben nichts dem Zufall überlassen: Als einziger Starter geht er mit einer Zeitfahrmaschine samt Scheibenrad auf die ersten, noch halbwegs flachen 18 Kilometer bis zum Fuß des Anstiegs. Dann wechselt er auf das leichte Berg-Rad und kurbelt mit seinem grünen Stirnband die Steigung hinauf, meist mit der von Bernard Hinault empfohlenen Übersetzung von 39x19.

Während andere Asse wie Fignon über zehn Minuten verlieren, siegt "Jeff" mit 1:39 Vorsprung auf Lucho Herrera und übernimmt Gelb. Der Tour-Sieg scheint greifbar, doch am nächsten Tag schon kostet ihn ein Defekt im falschen Moment den Gesamtsieg. In Paris bleibt Rang drei – doch sein Ventoux-Sieg bleibt für die Ewigkeit.

"Not normal" und normal: Während Bernard bei seinem Parforecritt auch einen neuen Ventoux-Rekord aufstellt, soll er ihn nicht so lange behalten wie sein Vorgänger Charly Gaul (1958). Schon 1999 unterbietet Jonathan Vaughters die Marke bei der Dauphiné im Bergzeitfahren klar – und der heutige Garmin-Boss sagt inzwischen auch ganz offen, dass er deshalb aus eigener Erfahrung genau weiß, wie wirksam Doping ist.

Doch ein neuer Rekord folgt schon 2004, Iban Mayo ist in 55:50 Minuten noch eine Minute schneller, Lance Armstrong bleibt da nur Rang fünf mit fast zwei Minuten Rückstand. Beunruhigend für den Texaner, so kurz vor der Tour: Als "not normal" qualifiziert er laut Tyler Hamilton solche Leistungen der Konkurrez – und wird sofort aktiv.

Seinen Ex-Teamkollegen Hamilton, Zweiter hinter Mayo, schwärzt er direkt nach der Etappe bei der UCI an. Diese ruft Hamilton nur drei Stunden nach dem Rennen an und bittet ihn zum Gespräch über seine Blutwerte...

Nur am Rande, weil ja inzwischen fast pausenlos über Rekordzeiten und Wattzahlen gesprochen wird. Es scheint durchaus möglich, den Ventoux deutlich unter einer Stunde sauber zu bezwingen. Der Beweis? Etwa die Leistung von David Moncoutié , der 1999 in 58:30 ankam.

Zum Abschluss soll noch daran erinnert sein, dass Tony Martin 2009 immerhin am Ventoux besonders geehrt wurde: Als "Kämpferischster Fahrer" des Tages durfte er am Observatorium aufs Podest. Um seine Leistung besser würdigen zu können – und vielleicht als Vergleich für die Etappe bei der 100. Tour: Martin benötigte für den Anstieg zum Ventoux am vorletzten Tag der Tour exakt 62:17 Minuten, die schnellste Zeit für die 21,1 Kilometer lieferte Andy Schleck mit 58:40 Minuten ab.

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