50. Geburtstag, 25 Jahre erster Tour-Etappensieg

Zabel feiert ein einzigartiges Doppeljubiläum

Von Herbert Watterott

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7. Juli 1995: Erik Zabel gewinnt seine erste Tour-Etappe | Foto: Hennes Roth

07.07.2020  |  (rsn) – Ein einzigartiges Jubiläum: Heute vor 50 Jahren wurde Erik Zabel geboren und heute vor 25 Jahren gewann der ehemalige Telekom-Profi seine erste Etappe bei der Tour de France. Der Beginn einer ebenso einzigartigen Karriere, die der ehemalige ARD-Reporter Herbert Watterott in einem Augenzeugenbericht für radsport-news.com würdigt.

Es ist der 7.Juli 1995, 16.59 Uhr: Wir sehen die 6. Tour-Etappe von Dünkirchen nach Charleroi über 202 Kilometer. 154 Rennfahrer bewegen sich auf dem Asphalt wie ein großer Ameisenhaufen im Wald. Eng aneinander, Rad an Rad. Die Geschwindigkeit wird immer höher, ist inzwischen auf 60 Kilometer pro Stunde angewachsen.

Nach viereinhalb Stunden taucht vor dem Feld das berühmte Zeichen für die letzten eintausend Meter auf. Es ist die "Flamme Rouge“, dieser rote, dreieckige Stofffetzen. Der legendäre "Teufelslappen“. Er hängt schlaff an einer Schnur, die quer über den Boulevard de Bruxelles gespannt ist. Die bunt gekleidete Meute der Rennfahrer rast unter ihm hindurch und jagt wie von Furien gehetzt in Richtung Ziel. Noch ist nichts entschieden. Ein kompromissloses Gerangel und Geschubse hat begonnen, hart an der Grenze der Fairness. Jeder späht nach der besten Ausgangsposition für den Sprint, um möglichst den heiß begehrten Etappensieg zu ergattern.

Die Helfer suchen verzweifelt nach den Lücken, durch die sie den Weg für ihre Sprintstars bahnen können. Zwei teuflisch gefährliche Rechtskurven noch, erst dann geht es auf die Zielgerade. Die Spannung steigt weiter. Auf der Avenue des Alliés zieht sich das eben noch kompakte Feld nach der ersten der beiden Kurven lang auseinander. Nach dem zweiten Linksknick taucht der Boulevard Bertrand auf. Und noch einmal öffnen sich kleine Lücken im Feld.

Sprinterasse wie Jaan Kirsipuu aus Estland, der Italiener Mario Cipollini, Jan Svorada aus der Slowakei, der Franzose Laurent Jalabert und Djamolidine Abdujaparov aus Usbekistan haben ihre Position an der Spitze des Feldes bezogen. Dort gehören sie hin, denn sie sind die Besten ihres Fachs. Sie haben in ihren großartigen Karrieren schon diverse Sprintetappen bei der Tour de France gewonnen und gelten als ausgemachte Favoriten für den Tagessieg auf dieser Flachetappe. Es gibt aber einen weiteren Rennfahrer, den die Stars nicht auf der Rechnung haben. Noch nicht!

Ein neuer Star am Sprinterhimmel

Der junge Mann heißt Erik Zabel, ist gebürtiger Berliner, fährt für das Team Telekom und ist zum zweiten Mal bei der Tour de France dabei. Zabel hatte bisher zwar noch keinen Etappensieg erringen können, ist aber schnell wie der Blitz. Drei seiner Teamgefährten flankieren ihn noch, kurz bevor der eigentliche Sprint beginnt. Udo Bölts, Jens Heppner und Olaf Ludwig, der selbst ein erstklassiger Sprinter ist. Alle drei fahren und arbeiten für ihren jungen Teamkollegen. Heute vielleicht noch ein wenig aufopferungsvoller und schneller als sonst. Denn Erik Zabel hat Geburtstag, er wird fünfundzwanzig Jahre alt.

Am Morgen bei der Fahrerbesprechung hatte Teamchef Walter Godefroot noch gesagt: "Jungs, wir haben mit Erik und Olaf zwei Eisen im Feuer, wenn es zum Massenspurt kommt. Das ist ein großer Vorteil für uns. Aber die leicht ansteigende Zielgerade von heute Nachmittag ist Erik wie auf den Leib geschneidert. Wir fahren deshalb für ihn“, sagte der ausgefuchste Teamchef mit Nachdruck zu seinen Angestellten.

Dann fügte er noch hinzu: "Ihr wollt ihm doch ein Geschenk machen zu seinem Ehrentag, oder nicht? Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Macht das Beste daraus“. Erik Zabel hatte die besten Sprinter der Welt bei der Tour bis zu diesem Tag noch nie besiegen können. Er kämpfte um seinen ersten Etappensieg.

Einige Stunden später fliegt in vorderer Position der bullige Olaf Ludwig aus der letzten Kurve heraus auf die Zielgerade, wie geplant klebt Erik Zabel förmlich an seinem Hinterrad. Er folgt dem erfahrenen Ludwig mit blindem Vertrauen. „Ete“ wartet lange. Cool und abgebrüht verharrt er bis zum letzten Moment im Windschatten und rast erst dann mit einem kraftvollen, wuchtigen Antritt an Ludwig vorbei.

Ich fieberte als Reporter am ARD-Mikrofon mit: „Die letzten einhundert Meter sind angebrochen. Zabel spielt endlich im richtigen Moment seine unwiderstehliche Endschnelligkeit aus und ist der Triumphator von Charleroi, der "Roi“ von Charleroi, der König. Die Sensation ist perfekt. Erster Tour-de-France-Etappensieg in Zabels Karriere, bravo, Erik!

Den zweiten Platz belegt Laurent Jalabert aus Frankreich und Dritter wird Djamolidine Abdujaparov aus Usbekistan. Zwei ausgemachte Sprintspezialisten“. Das musste man erst einmal „sacken“ lassen.

Gleichzeitig beendete Zabel wie nebenbei eine lange, lange Durststrecke. Der letzte Tagessieg eines Deutschen datierte vom 17. Juli 1993 bei der Etappe von Marseille nach Montpellier, liegt also fast schon zwei Jahre zurück. Damals hieß der Mann des Tages Olaf Ludwig. Heute hatte er seinen jüngeren Gefährten und Thronfolger zum Sieg gelotst. Ein riesiger Trubel herrschte auf der Place du Manège direkt hinter dem Ziel. Mittendrin der Hauptdarsteller, um den sich blitzschnell eine große Menschentraube gebildet hatte.

Riesiger Pokal aus den Händen des belgischen Königs

Alle bestürmten und belagerten den überraschenden Etappensieger. Die hektischen Journalisten gierten nach den ersten Reaktionen. Die Bodyguards der Tour-Organisation dagegen bemühten sich, ihren einzigen Auftrag auszuführen und den Gewinner der Etappe zur Siegerehrung auf das Podium zu schleppen. Was dort folgte, war eine feierliche und stimmungsvolle Zeremonie. König Albert der Zweite von Belgien war höchstpersönlich erschienen und hatte am Nachmittag schon vor der Eurovisionsübertragung auf der Fernsehtribüne alle Kommentatoren mit Handschlag begrüßt.

Unter dem Jubel der radsportverrückten Fans, darunter viele, die aus dem nahe gelegenen Deutschland herübergekommen waren, erhielt Erik Zabel aus den Händen des belgischen Königs die obligatorischen Blumen und einen riesigen Pokal. Erik Zabel stieg durch diesen Erfolg in die Königsklasse der Sprinter auf. Seit seinem Übertritt zu den Profis im Jahre 1993 hatte der Berliner vierzehn Siege herausgefahren. Sein wichtigster Erfolg war die Weltpokalprüfung Paris-Tours. Aber mit dem Sieg von Charleroi erfüllte sich ein Traum, der den neuen Sprintstar schon seit seiner Jugendzeit immer wieder unruhig hatte schlafen lassen.

Am Abend des Sieges gab es natürlich eine kleine Siegesfeier in entspannter Atmosphäre in einem idyllisch gelegenen Schloss, das der Telekom-Mannschaft als Quartier diente.

Nach diesem Sieg schien es, als wäre der gesamten Mannschaft eine zentnerschwere Last von den Schultern gefallen – und den Verantwortlichen in der Chefetage des Sponsors Telekom gleich mit. Siege waren in diesem Frühjahr 1995 eine Rarität gewesen. Die großen Erfolge auf internationalem Parkett blieben aus, so sehr sich das Team auch bemühte.

Erik Zabel schaffte in seinem dritten Profijahr zwar vier erste Plätze bei den Etappenrennen Tirreno-Adriatico, der Aragon-Rundfahrt und bei den Vier Tagen von Dünkirchen. Aber schon wurde hinter vorgehaltener Hand diskutiert, ob der mangelnde Erfolg zu einem Rückzug des Sponsors Telekom am Ende des Jahres führen könnte.

Vom Schock zum Triumph…

Als dann die Organisatoren im Vorfeld der Tour 1995 die Einladungen an die einzelnen Mannschaften verschickten, war die Katastrophe perfekt. Die Mannschaft von Walter Godefroot ging leer aus. Ein Aufschrei ging durch das Land, die Presse und die Fans waren in heller Aufruhr. Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc und seine Berater hielten das Team Telekom ganz einfach nicht für attraktiv genug, um an der Tour teilzunehmen. Bis zur Tour de Suisse, die drei Wochen vor der Tour stattfand, blieben die Fronten verhärtet.

Hinter den Kulissen wurde fieberhaft nach einer Lösung gesucht und um Kompromisse gerungen. Selbst der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der radsportbegeisterte SPD-Fraktionsvorsitzende, spätere Bundesverteidigungsminister und jetzige Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), Rudolf Scharping, setzten sich für die einzige deutsche Profimannschaft ein.

Aber erst die verzweifelten Bemühungen des Sportlichen Leiters Walter Godefroot, der selbst die Tour siebenmal bestritten und dabei zehn Etappensiege errungen hatte, erreichten eine wenn auch merkwürdige Lösung. Das Team Telekom durfte zusammen mit dem italienischen Rennstall ZG Mobili/Selle Italia eine gemischte Mannschaft zur Tour schicken. Mit Rolf Aldag, Udo Bölts, Jens Heppner, Olaf Ludwig, Erik Zabel und dem Ukrainer Vladimir Poulnikov bekamen sechs Telekom-Profis die Starterlaubnis. Diese Rumpftruppe wurde durch die beiden Italiener Stefano Colage und Andrea Ferrigato sowie Nelson Rodriguez aus Kolumbien vom anderen Team ergänzt.

Obwohl Erik Zabel jetzt weniger Helfer an seiner Seite hatte, herrschte gedämpfter Optimismus vor dem Tour-Start in St. Brieuc in der Bretagne. Zwei Siege bei der Tour de Suisse in Genf und in Lenzburg durch Zabel ließen die Hoffnungen auf ein erfolgreiches Abschneiden bei der Tour wachsen. Der Sieg von Charleroi machte Zabel Appetit auf mehr. Auf der 17. Etappe am 20. Juli errang Zabel nach 246 Kilometern zwischen Pau und Bordeaux den zweiten Tageserfolg und trug sich nach berühmten Namen wie van Looy, Darrigade, Basso, Merckx, Raas, De Wilde und Godefroot in die illustre Siegerliste ein.

Ab diesem Zeitpunkt sorgte Erik Zabel immer wieder durch spektakuläre Erfolge für Schlagzeilen. Der Telekom-Konzern blieb dem Radsport als Sponsor treu und spendierte das nötige Geld, um den Rennstall zu finanzieren.

1996 das nächste Highlight

1996 sorgte Zabel für ein weiteres Tour-Highlight. In Gap in den französischen Alpen eroberte er nach seinem Etappensieg über den Dauerrivalen Abdujaparov sein erstes Grünes Trikot. Jahrelang war Zabel danach ohne Grünes Sprintertrikot gar nicht vorstellbar. Achtundachtzig Grüne Trikots hat Zabel insgesamt errungen. Einige liegen noch bei ihm daheim, die meisten aber hat er an Freunde und Fans verschenkt oder gestiftet für Versteigerungen, um Geld für karitative Zwecken zu erzielen.

Erik Zabel kannte im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen keine ausgeklügelte Dosierung seiner Saisoneinsätze. Schon im Februar auf Mallorca und auf dem spanischen Festland war er pausenlos am Start. Klassiker, kleinere Rundfahrten, Tour de France, Deutschland-Tour, Spanienrundfahrt und Weltmeisterschaft rundeten das Programm ab. Erst wenn am Ende der Saison die Blätter von den Bäumen fielen, war auch für Erik Zabel Schluss.

Der gebürtige Berliner war einer der erfolgreichsten Rennfahrer seiner Zeit. Über 200 Siege als Berufsfahrer sprangen heraus. Zweimal Paris-Tours, viermal Mailand-Sanremo, Amstel Gold Rennen, HEW-Classics in Hamburg, fünf Tageserfolge bei der Vuelta und die Deutsche Straßenmeisterschaft. Als gelernter Bahnfahrer war er auch bei dreizehn Sechstagerennen siegreich. Vierzehnmal bestritt er die Tour de France holte dabei 12 Etappensiege heraus und trug sechsmal das begehrte Grüne Trikot des besten Sprinters bis Paris. Einem Sieg auf der Schlussetappe mit dem Ziel in Paris auf den Champs -Élysées jagte er in all den Jahren vergeblich hinterher. Nur viermal Zweiter war trotzdem eine hervorragende Ausbeute.

Dieser Traum von Erik Zabel blieb unerfüllt!

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Herbert Watterott: Jahrgang 1941 – war 1965, als die Tour vor dem Kölner Dom startete zum ersten Mal dabei. Der Bensberger berichtete 41-mal vom größten Radrennen der Welt, 25-mal vom Giro d’Italia, dazu von 18 Olympischen Spielen, 25 Eishockey-Weltmeisterschaften und 60 Sechstagerennen. Seit über 40 Jahren Mitglied im Radsportverein Staubwolke Refrath, ist Watterott bis heute im Bergischen Land unterwegs – auf seinem Merckx-Rennrad, das ihm einst Udo Bölts schenkte.

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