Das Tagebuch der “ungarischen Anne Frank“

Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad

Foto zu dem Text "Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad"
| Foto: Nischen Verlag

29.12.2020  |  "Heute haben sie mein rotes Fahrrad abgeholt. Es war im Rathaus eingetragen, dass ich ein Fahrrad hatte. So konnten es die Polizisten leicht finden. Ich habe mich auf den Boden geworfen, das Hinterrad meines Fahrrads fest umklammert und geschrien, die Polizisten beschimpft: Sie sollten sich schämen, einem Kind sein Fahrrad wegzunehmen...

Dieses rote Fahrrad war mein ein und alles, von Anfang an!
Denn es hat mich drei Jahre lang nie im Stich gelassen, immer gut funktioniert und es gab nie etwas zu zahlen. Einer der Polizisten hat sich furchtbar aufgeregt: 'Das fehlte gerade noch, dass dieses närrische Judenmädchen wegen dem Rad so einen Zirkus macht. Ihr Juden habt hier lange genug alles gehabt, und unsere Soldaten müssen an der Front hungern und frieren.'"

Diese zwei Abschnitte im Tagebuch des in Siebenbürgen lebenden jüdischen Mädchens Eva Heyman markieren den ersten massiven Eingriff der Besatzungsmacht in ihr Leben. Zwar wurde zuvor bereits Evas beste Freundin samt Familie von den Deutschen verschleppt, und ihr Stiefvater, ein liberaler Journalist, musste einige Monate im Arbeitslager verbringen.

Aber Eva selbst war bisher nicht direkt 
von der deutschen Besatzung betroffen; das änderte sich nun: Juden war es nicht mehr erlaubt, ein Fahrrad zu besitzen - wie so vieles andere; selbst Geschirr und Wäsche wurden beschlagnahmt. Und seit dem Tag, als Eva das Rad weggenommen worden war, mussten alle Jüd/innen auch in Ungarn den gelben Starn tragen.

Eva beschreibt das alles sehr persönlich und nachvollziehbar in ihrem Tagebuch. Seit ihre Freundin deportiert wurde, hat sie ständig Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Und dass man ihr das geliebte Rad wegnimmt, ist für Eva ein Zeichen, dass es nun so kommen wird...  

Am 13. Februar 1944, einem Freitag,
ihrem 13. Geburtstag, beginnt Eva Tagebuch zu schreiben. Der letzte Eintrag stammt vom 30. Mai 1944: Eva wird nach Auschwitz deportiert, und dort am 17. Oktober von Josef Mengele umgebracht.

Die ungarische Anne Frank nennt man Eva Heyman oft. Ihre Mutter, die Journalistin Agnes Zsolt, hat Evas heimlich geführtes Tagebuch nach dem Krieg vom früheren Hausmädchen der Familie bekommen, und bereits 1947 unter dem Titel “Eva lányom” (Meine Tochter Eva) als Buch herausgegeben. „Das rote Fahrrad“ ist die erste deutsche Fassung des Tagebuchs, 2013 im Wiener Nischen-Verlag erschienen.

Wie weit das Tagebuch tatsächlich von Eva selbst
stammt, und wie weit die Mutter die Einträge ergänzt und überarbeitet hatt, ist umstritten. Diverse Kinder-Psychiater und -Psychologen haben sich mit den Texten beschäftigt - und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Manche Eintragungen werden als nicht altersgemäß angesehen, und die Rolle der abwesenden Mutter wird als zu positiv beschrieben.

Am ehesten nachvollziehbar erscheint die Erklärung, die Mutter Agnes Zsolt habe das Tagebuch durch die Überarbeitungen auch benutzt, ihre schweren Gewissensbisse zu bewältigen, weil sie die Tochter nach der Scheidung vom Vater bei der Großmutter in Siebenbürgen zurückgelassen hat. Agnes reiste mit ihrem neuen Ehemann, dem bekannten Publizisten Bela Zsolt, durch ganz Europa; die beiden konnten sich schließlich in die Schweiz absetzen.

Leider hat das Tagebuch auch Agnes Zsolt
nicht geholfen: Vier Jahre nach der Veröffentlichung, 1951 begeht sie nach langen Depressionen Selbstmord. Trotzdem bleiben die Aufzeichnungen Eva Heymans, die ihren unbändigen Lebenswillen ebenso ausdrücken wie ihr schreckliches Schicksal, ein anschauliches, wenn auch grausames Dokument eines bisher zu wenig bekannten Kapitels der europäischen Geschichte: Über 435 000 ungarische Jüdinnen und Juden wurden in gerade mal einem halben Jahr, von März bis August 1944 deportiert.

Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad, Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner, 160 Seiten; Nischen Verlag, Wien; ISBN 978-3-9503345-0-0; 19,80 Euro

 
Weitere Informationen

Nischen Verlag
Zsóka Lendvai
Wien

E-Mail: nischenverlag@aon.at
Internet: www.nischenverlag.at

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