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24.07.2005 | So etwas habe ich noch nie gesehen: Der Drittplatzierte der Gesamtwertung im wichtigsten Radrennen der Saison wird von seinem Team im Stich gelassen. Was Mickael Rasmussen, dem tapferen Dänen, am Samstag beim Einzelzeitfahren um St. Etienne widerfahren ist, spottet jeder Beschreibung. Die Vorstellung, die Rabobank da hingelegt hat, war einfach nur blamabel. Da gibt Rasmussen bei seinem ersten Defekt den Mechanikern das eindeutige Signal, das Hinterrad zu wechseln – und was machen die? Sie ignorieren die Anweisung des Fahrers, sorgen für heillose Verwirrung, indem sie ihm gleich ein neues Rad geben. Leider hat die neue Maschine dann auch nicht funktioniert. Die nachfolgende Sturz- und Defektorgie hat Rasmussen dann auch in tiefste Verzweiflung stürzen lassen. Ich habe ein solch amateurhaftes Verhalten in einem der teuersten Teams der Welt bisher für unvorstellbar gehalten. Dabei gab es gestern nur einen Mann, eben Rasmussen, auf den sich Rabobank zu konzentrieren brauchte. Was die Fernsehbilder aber zeigten, waren völlig unvorbereitete und überforderte Mechaniker. Mir hat der arme Rasmussen schließlich nur noch leid getan. Die Stümperhaftigkeit seiner Betreuer hat ihn völlig aus dem Rhythmus gebracht und ihm eine gute Platzierung gekostet.
Nicht aber den Platz auf dem Podium. Jan Ullrich hat den dritten Gesamtrang aus eigener Kraft geschafft. Schon vor dem ersten Problemen Rasmussens hatte Ullrich seinem Konkurrenten soviel Zeit abgenommen, dass klar war, wer in Paris neben Armstrong und Basso auf dem Podium stehen würde. Ullrich hat also nicht vom Missgeschick seines Rivalen profitiert. Wohl aber die hinter Ullrich platzierten Fahrer Mancebo, Leipheimer und Winokurow.
Beinahe hätte sogar noch Cadel Evans Rasmussen überflügelt. Seine gestrige Vorstellung war der krönende Abschluss einer blendenden Tour. Mit Platz sieben beim Zeitfahren hat der kleine Australier wohl viele Beobachter überrascht, mich aber nicht. Ich hatte mit einer guten Platzierung gerechnet, denn Cadel ist mit zunehmender Tour-Dauer immer stärker geworden und alles andere als ein schlechter Zeitfahrer. Wer weiß schon, dass er im Jahr 1994 bei der damaligen Junioren-WM in Italien Dritter im Einzelzeitfahren geworden ist – in seinem ersten richtigen Zeitfahren. Vor diesem Rennen hatte Cadel noch nie auf einer Zeitfahrmaschine gesessen.
Ich bedaure sehr, dass Evans in seinen zwei Jahren bei T-Mobile sein Potenzial nie wirklich abrufen konnte. Er war wohl nicht so in die Mannschaft integriert, wie es nötig gewesen wäre. Was in ihm steckt, hat er jetzt gezeigt – leider in den Farben eines anderen Teams.
All die bereits erwähnten Fahrer waren in sportlicher Hinsicht gestern aber nur Nebendarsteller. Die Hauptrollen hatten – wieder einmal bei einem Zeitfahren –Lance Armstrong und Jan Ullrich. Die beiden waren eine Klasse für sich und fuhren ein eigenes Rennen. Da konnte auch ein Ivan Basso nicht mithalten, der voll am Anschlag fuhr und am Ende platt wie eine Flunder war. Die Ankündigung von Bjarne Riis, sein Kapitän hätte sich im Zeitfahren deutlich verbessert, war wohl lediglich dazu gedacht, Basso einen Motivationsschub zu verpassen. Ich konnte beim Italiener keine verbesserten Zeitfahrqualitäten feststellen. Hinzu kam, dass er das Rennen zu forsch anging und zu schnell über der anaeroben Schwelle war. Als Faustregel gilt: Bei einem Einzelzeitfahren kann man nicht mehr als zehn Prozent oberhalb der aerob-anaeroben Schwelle fahren. Es zeichnet einen guten Zeitfahrer aus, dass er diese Grenze nicht überschreitet. Basso hat sich gestern einfach zuviel zugemutet. Und wenn das Rennen noch einige Kilometer länger gewesen wäre, hätte er seinen zweiten Gesamtrang auch noch an Jan Ullrich verloren.
Perfekte Rennen sind dagegen Armstrong und Ullrich gefahren. Lance Armstrong hat den Schlusspunkt, nein, das Ausrufezeichen hinter eine einmalige Epoche gesetzt, in der zwei herausragende Profis den Radsport in eine neue Dimension geführt und ihm ungeahnte Popularität verschafft haben. Sicherlich war der Amerikaner der uneingeschränkte Herrscher der vergangenen sechs Jahre, sein Thron wackelte nur einmal: 2003, als Jan Ullrich energisch daran rüttelte. Bitter für Jan: Ohne Armstrong hätte er die Tour wahrscheinlich fünf Mal gewonnen.
Auch wenn Lance Armstrong ein von vielen ungeliebter Champion ist, muss man ihn in den höchsten Tönen loben. Sein Wille, seine Professionalität sowie seine Lebens- und Leidensgeschichte haben viele Menschen motiviert, ja, inspiriert, nicht nur was den Radsport, sondern auch den Umgang mit dem eigenen Leben anbelangt. Sicher hatte Armstrong auch seine Fehler und Mängel, aber nobody’s perfect. Bezeichnenderweise hat ihn Kritik immer nur noch mehr angespornt, ja, es schien, als würde er sie für sich selbst zur Motivation nutzen. Armstrongs nicht immer fairen Aktionen auf der Strecke werden in Zukunft Episode sein angesichts der Leistungen, die der Amerikaner vollbracht hat.
Der Kreis schließt sich: Auf der ersten Etappe habe ich über die imponierenden Zeitfahrleistungen der Amerikaner berichtet. Gestern haben Armstrong, Julich, Hincapie & Co. meine Einschätzung bestätigt: Die Amerikaner sind die Zeitfahrnation Nummer eins, übrigens auch bei den Frauen. Ich wiederhole mich an dieser Stelle gerne: Die amerikanische Überlegenheit beruht vor allem auf ihrer ausgezeichneten Trainingsmethodik. Die Amerikaner nutzen die neuesten wissenschaftliche Hilfsmittel, wie etwa das SRM-System und haben sich deshalb einen Erfahrungsvorsprung vor den anderen Nationen verschafft.
Die gestrige Etappe war mit all ihrer Dramatik beste Werbung für den Radsport. Da gab es den Absturz Rasmussens, die wunderbaren Vorstellungen von Armstrong und Ullrich, einen auf dem Zahnfleisch fahrenden Basso. Und einen Sebastian Lang, der auf Platz 16 zweitbester Deutscher noch vor Jörg Jaksche war und seine Zeitfahrqualitäten eindruckvoll unter Beweis stellte.
Zur PersonHeiko Salzwedel ist einer der erfolgreichsten deutschen Radsporttrainer. Er führte im Jahr 1989 als Nationaltrainer der DDR-Bahnradfahrer den Vierer zu WM-Gold. Nach der Auflösung der DDR wurde er australischer Nationaltrainer und betreute Fahrer wie Robbie McEwen, Henk Vogels, Mathew White, Patrick Jonker und Kathy Watt. In seiner Profi-Mannschaft ZVVZ-GIANT-A.I.S. begannen Sportler wie Jens Voigt, Tomas Konecny, Jan Hruska, Nick Gates oder die beiden älteren Brüder von Michael Rogers (Deane und Peter) ihre erfolgreiche internationale Karriere.
Weitere Stationen des 48 jährigen Globetrotters aus dem thüringischen Schmalkalden waren das Amt des Leistungssportreferent beim Bund Deutscher Radfahrer, Teammanager im Britischen Radsportverband sowie Chef-Trainer der deutschen Frauen-Profimannschaft Equipe Nürnberger. Derzeit ist Salzwedel für die Nachwuchsförderung bei T-Mobile zuständig und Nationaltrainer der dänischen Bahn-Radsportler.
Heiko Salzwedel im Internet: http://www.sl-sports.com
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