Tour: Kopfsteinpflaster kein „Scharfrichter"

Martin mit Kraft und Mut,die „Großen Vier"geben sich keine Blöße

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Tony Martin (Etixx-Quick-Step) auf dem Weg zum Etappensieg und zum Gelben Trikot | Foto: Cor Vos

07.07.2015  |  (rsn)) - Tony Martin (Etixx-Quick-Step) ballte immer wieder die Faust und konnte sein Glück kaum fassen. Auf der 4. Etappe der Tour de France ist für den dreimaligen Zeitfahrweltmeister der große Traum endlich wahr geworden. Mit einem famos herausgefahrenen Solosieg eroberte Martin nach 223,5 Kilometern von Seraing nach Cambrai im vierten Anlauf doch noch das erste Gelbe Trikot seiner Karriere.

Der 30-Jährige ließ sich dabei auch von einem späten Defekt und dem dadurch nötig gewordenen Radwechsel nicht beirren und triumphierte nach einer Attacke 3,3 Kilometer vor dem Ziel. Mit seinem insgesamt fünften Etappensieg bei einer Frankreich-Rundfahrt löste Martin den bisherigen Spitzenreiter Chris Froome (Sky) im Gelben Trikot ab und führt nun das Gesamtklassement zwölf Sekunden vor dem Briten an.

Hinter der Ziellinie ließ sich der Etixx-Kapitän überglücklich zu Boden fallen. Seine Teamkollegen waren als erste Gratulanten zur Stelle. Sogar Tom Boonen, der nicht zum Tour-Aufgebot zählt, eilte zur spontanen Feier seines Teams herbei. „Das ganze Pech der letzten Tage hat sich heute in Glück gewandelt“, sagte Martin in der ARD.

„1000 Mal danke an das ganze Team, das mich so gut unterstützt hat. Während drei Tagen haben wir so hart mit der ganzen Mannschaft gearbeitet, ohne sie hätte ich das niemals schaffen können. Ich versuche immer alle zu überraschen und nicht bis zum letzten Meter zu warten. Ich bin früh angetreten, manchmal klappt es, manchmal eben nicht. Heute hatte ich das Glück des Tüchtigen, das läuft nicht immer so“, fügte der in der Schweiz lebende Eschborner an.

Teamkollege Mark Cavendish, der auf der 2. Etappe am Sonntag noch durch einen vermasselten Sprint die schon da mögliche Übernahme des Gelben Trikots unfreiwillig verhindert hatte, twitterte fast schon erleichtert: „Und Tony Martin macht es in seiner typischen Art. Kein Glück, nur Kraft und Mut. Gelbes Trikot bei der Tour. So stolz auf Dich.“

 

Auf den ersten 20 Plätzen der Gesamtwertung kam es nur zu geringfügigen Veränderungen. Die 13,3 Kilometer Kopfsteinpflaster erwiesen sich nicht wie erwartet als „Scharfrichter“, keiner der Favoriten gab sich eine Blöße, so dass die Abstände insbesondere zwischen den „Großen Vier“ Froome, Alberto Contador (Tinkoff-Saxo), Vincenzo Nibali (Astana) und Nairo Quintana (Movistar) unverändert blieben.

„Ich bin zufrieden mit der Etappe. Kein Sturz, keine großen Sorgen, nur einige kleinere mechanische Probleme. Und eine unglaublich stark arbeitende Mannschaft, die mich toll unterstützt hat“, sagte etwa Contador, der auf die selbstlose Hilfe seines Teamkollegen Peter Sagan bauen konnte. Der Slowake, selbst ein Kandidat auf den Etappensieg, schloss im Finale mehrmals Lücken und führte seinen Kapitän wieder an die Konkurrenz heran.

„Wir wollten Alberto aus allen Gefahren raushalten. Das war schwer, aber wir haben ein gutes Rennen gezeigt“, sagte der 25-Jährige. „Als ich gesehen habe, wie Tony Martin attackiert hat, […] konnte ich nicht kontern, ich war fertig nach all der Arbeit für Alberto. Aber es ist perfekt, der Job wurde gemacht."

Den deutschen Doppelerfolg perfekt machte John Degenkolb (Giant-Alpecin), der im Frühjahr mit seinem Sieg bei Paris-Roubaix auf ähnlichem Terrain Radsport-Geschichte geschrieben hatte. Der 26-jährige Frankfurter sicherte sich drei Sekunden hinter Martin im Sprint der ersten Verfolger Rang zwei vor Sagan, dem Belgier Greg Van Avermaet (BMC) und dem Norweger Edvald Boasson Hagen (MTN-Qhubeka).

Mann des Tages aber war Martin. Dabei schien 19 Kilometer vor dem Ziel seine Pechsträhne weiterzugehen, denn nach einem Reifenschaden musste er bei hohem Tempo auf dem Rad seines Teamkollegen Matteo Trentin der Spitzengruppe hinterherjagen und schaffte tatsächlich innerhalb von nur vier Kilometern wieder den Anschluss.

Auf dem Weg von Belgien nach Nordfrankreich ging es bei guten Wetterbedingungen – vom vorhergesagten Regen waren die noch 191 Starter verschont geblieben - erst spät, nämlich auf den letzten sechs von insgesamt sieben Kopfsteinpflaster-Sektoren so richtig zur Sache.

Zuvor hatte auf dem längsten Abschnitt der diesjährigen Tour vier Ausreißer dominiert, die sich schon nach sechs Kilometer davonmachten und mehr als neun Minuten an Vorsprung herausfahren konnten, ehe im Feld zunächst Sky und dann Giant-Alpecin sowie weitere Teams mit Ambitionen auf den Etappensieg die Jagd auf Perrig Quemeneur (Europcar), Lieuwe Westra (Astana), Thomas De Gendt (Lotto-Soudal) und Frederic Brun (Bretagne-Séché Environnement) eröffneten.

Als es 46 Kilometer vor dem Ziel in die entscheidende Phase ging, war der Vorsprung der Ausreißer fast aufgebraucht. Kurz nach dem zweiten Pavé-Sektor war die Flucht der Vier beendet und die Teams der Favoriten traten in Aktion. Nibali schickte seine Helfer nach vorn und attackierte schließlich mehrfach selbst. Doch keiner seiner Konkurrenten ließ sich abschütteln, selbst das Fliegengewicht Quintana hielt sich in der Gruppe.

Nur Thibaut Pinot (FDJ), der schon an den vergangenen beiden Tagen hinterher gefahren war, agierte auch heute glücklos. Nach einem Defekt verlor der Gesamtdritte der Tour 2014 den Anschluss und handelte sich erneut Rückstand ein. Dagegen steckte Martin den späten Rückschlag mit Hilfe seines Teamkollegen Trentin weg und schaffte mit Unterstützung von Julien Vermote und Michal Golas wieder den Anschluss.

Als zehn Kilometer vor dem Ziel die letzte der Kopfsteinpflasterpassagen überstanden war, fand auch eine zweite Gruppe um Contador und Quintana wieder den Anschluss an die Spitze, so dass knapp 40 Fahrer dem Ziel entgegenjagten. Froomes Helfer Geraint Thomas versuchte, das Rennen von der Spitze weg zu kontrollieren, doch Martin überraschte auf den letzten drei Kilometern alle seine Gegner mit seiner entschlossenen „Alles-oder-Nichts“-Attacke.

Zwar versuchten Degenkolbs Helfer Warren Barguil und Koen de Kort, den Rückstand wieder wettzumachen, doch Martin spielte alle seine Fähigkeiten als Zeitfahrer aus und rettete einen knappen Vorsprung ins Ziel. Dort fiel alle Spannung von ihm ab, ausgelassen feierte der große Gewinner des Tages seinen Sieg und das Gelbe Trikot.

Da André Greipel (Lotto Soudal) auch sein Grünes Trikot gegenüber Sagan knapp verteidigte, stehen an der Spitze von Gesamt-und Punktewertung der Tour erstmals seit 1997 wieder zwei deutsche. Damals teilten sich Jan Ullrich und Erik Zabel diese Rollen.

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