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27.07.2023 | (rsn) – Demi Vollering kam mit frustriertem Gesicht am Mannschaftsbus des Teams SD Worx in Rodez an. Innerhalb weniger Minuten hatte die 26-jährige Niederländerin am Ende der 4. Etappe der Tour de France Femmes eine kleine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt:
Als sie Anouska Koster (Uno-X) auf den letzten Metern vor dem Zielstrich überholte, strahlte sie. Vollering wähnte sich offenbar auf dem Weg zu ihrem ersten Tour-Etappensieg, richtete sich kurz vor dem Strich zum Jubeln auf und schaute dann verdutzt: Gerade als sie die Arme hochreißen wollte, erblickte sie die tatsächliche Etappensiegerin Yara Kastelijn (Fenix – Elegant) im Zielbereich. Vollering schüttelte den Kopf und griff sich an den Helm.
"Ich hatte keine Ahnung. Ich habe Anouska eingeholt und das war die Einzige, die wir noch sehen konnten. Aber ich hatte keine Ahnung, wie es aussieht. Also habe ich mir gedacht: Ich jubel einfach mal, dann haben wir wenigstens ein Jubelfoto – und wenn es nicht passt, dann löschen wir es eben", scherzte sie gegenüber radsport-news.com am Mannschaftsbus, gab dann aber auch zu: "Ich bin natürlich auch etwas enttäuscht. Es ist eine Tour-Etappe, die will man natürlich gewinnen. Ich war nah dran heute, aber nicht nah genug."
Bevor sie mit radsport-news.com sprach, steuerte Vollering als erstes die Sportliche Leitung an, um den Tag mit Danny Stam und Anna van der Breggen zu besprechen. Dann herzte sie ihre Hündin Flo und ließ sich lange von ihrem Lebensgefährten Jan umarmen. Es war spürbar: Obwohl Vollering in der ihr auf den Leib geschneiderten, steilen Schlussrampe von Rodez acht Sekunden – zwei auf der Straße und sechs als Bonifikation für Platz zwei – auf ihre große Rivalin Annemiek van Vleuten (Movistar) und die anderen Podiumskandidatinnen herausgeholt hatte, konnte sie sich einfach nicht freuen.
"Natürllich ist es schön, ein paar Sekunden herauszuholen. Aber ich habe auf mehr gehofft, ich habe gehofft, heute schon mehr Zeit herauszuholen", erklärte sie dann auch und suchte für sich nach einer Erklärung in den Gegebenheiten: Mit 177 Kilometern war diese 4. Tour-Etappe die längste in der Geschichte des WorldTour-Radsports für Frauen. Vollering sah darin auch einen Grund, warum sie an den ihr so gut liegenden kurzen Anstiegen im Aveyron keinen größeren Unterschied hatte machen können. Nach der großen Distanz fehlte allen etwas die Explosivität, meinte sie.
Deshalb hatte auch der Masterplan des Überflieger-Teams aus den Niederlanden nicht ganz geklappt. Im Finale versuchte man zuerst - vergeblich - Mischa Bredewold und dann - erfolgreich - Lotte Kopecky aus dem Hauptfeld nach vorne herauszuschicken, um als Relais-Stationen da zu sein, wenn Vollering an der letzten Bergwertung attackieren würde. Doch an der Cote de Lavernhe konnte van Vleuten dem Angriff von Vollering folgen und das Duo war bereits an der Relais-Station Kopecky vorbei. Deshalb schauten sich die beiden Niederländerinnen anschließend an, arbeiteten nicht konsequent zusammen und wurden wieder eingeholt.
Im steilen Bergaufsprint zum Ziel in Rodez schließlich attackierte zuerst van Vleuten und Vollering folgte, um anschließend zu kontern und der Weltmeisterin immerhin noch um zwei Sekunden davonzufahren. Doch, wie Vollering bereits sagte, das war weniger, als man der jüngeren und normalerweise explosiveren 26-Jährigen bei diesem Finale hätte zutrauen können.
Entsprechend fröhlich wirkte dagegen im Ziel die rein faktisch zwar als Sekunden-Verliererin, emotional aber wohl als Gewinnerin aus dem Tag in Rodez hervorgehende van Vleuten: "Heute war der Tag, um sich gegenseitig zu testen, denn an den nächsten zwei Tagen können wir eher nur das Konzentrationslevel der Anderen testen", sagte sie regelrecht jubilierend im Ziel und machte mit ihrer Körpersprache klar: Für mich ist dieser Test sehr positiv ausgefallen!
"Klar bin ich nicht glücklich, ein paar Sekunden verloren zu haben", gab sie zwar zu, doch wie Vollering hatte auch sie wohl mit mehr gerechnet: "Ich bin happy heute. Die Beine haben sich gut angefühlt, der Teamplan hat funktioniert und wir sind sicher ins Ziel gekommen", meinte van Vleuten, die in der entscheidenden Phase mit der aus der Spitzengruppe zurückgekommenen Sheyla Gutierrez noch eine starke Fahrerin an ihrer Seite und vorher bereits zweimal attackiert hatte – auf Terrain, auf dem man eigentlich mit Vollerings Vorstößen gerechnet hatte.
"Ich denke wir haben einige etwas überrascht mit unserem Plan", strahlte van Vleuten und meinte mit Blick auf das große Duell um den Tour-Sieg: "Demi und ich hatten uns gegenseitig am Limit heute, denke ich. Im Ziel nahm sie mir ein wenig Zeit ab, weil ich irgendwie von Veloviewer im Kopf hatte, es wäre etwas kürzer."
An den kommenden zwei Tagen von Rodez nach Albi und von Albi nach Blagnac vor den Toren von Toulouse dürften Ausreißerinnen und Sprinterinnen wieder in den Mittelpunkt rücken, bevor am Samstag mit der Königsetappe über den Col d'Aspin auf den Col du Tourmalet der Kampf um Gelb seinen Höhepunkt erreichen und am Sonntag das Zeitfahren in Pau die Entscheidung bringen wird.
"Man weiß nie, wo sich eine Möglichkeit ergibt – auch auf der 5. oder 6. Etappe. Flachetappen heißen nicht, dass man gar nichts versuchen kann", warnte Vollering aber, dass man wachsam bleiben müsse – immerhin hat sie die Vuelta a Espana Anfang Mai gegen van Vleuten wegen einer Windkantenaktion von Movistar verloren, als sie und ihre Teamkolleginnen zum ungünstigen Zeitpunkt eine Pinkelpause eingelegt hatten.
Zur Halbzeit der Tour liegt Vollering nun 43 Sekunden hinter Teamkollegin Lotte Kopecky, der im Hochgebirge nicht zugetraut wird, vorne mitzuhalten, auf dem zweiten Gesamtrang – acht Sekunden vor Ashleigh Moolman-Pasio (AG Insurance – Soudal – Quick-Step), Katarzyna Niewiadoma (Canyon – SRAM), Elisa Longo Borghini (Lidl – Trek) und van Vleuten, den Hauptkandidatinnen aufs Podium in Pau. Mit etwas Abstand zum verpassten Etappensieg dürfte auch Vollering das wohlwollender zur Kenntnis genommen haben als direkt nach dem Rennen.
"Klar ist sie etwas enttäuscht, dass sie Zweite wurde. Das verstehe ich, denn eine Tour-Etappensieg ist schön", meinte Teamkollegin Kopecky. "Aber sie muss sich auf das große Hauptziel konzentrieren - und das ist der Gesamtsieg. Ich denke, wir werden heute Abend reden und ihr das erklären", so die Belgierin.
Denn was unter dem Strich nach den ersten vier Etappen bleibt, ist der Eindruck, dass van Vleuten zwar an den kürzeren Anstiegen gut mitgekommen ist, aber Vollering trotzdem stärker wirkte. Das fasste auch die Giro-Zweite Juliette Labous (DSM – firmenich) gegenüber radsport-news.com so zusammen: "Demi wirkt sehr stark. Ich denke, sie ist sogar etwas stärker als Annemiek. Und auch Ashleigh Moolman ist wirklich gut. Die Gruppe, die heute vorne war, ist ziemlich gleichauf, denke ich. Ich habe etwas Zeit verloren, aber ich denke ich bin insgesamt gut drauf und sollte in den langen Anstiegen bei ihnen dabei sein", sortierte die Französin, die 1:05 Minuten hinter Vollering auf Gesamtrang neun liegt, den Favoritinnenkreis.
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