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10.07.2017 | (rsn) - Sonntag, 17:52 Uhr. Nachricht von Wagi: "Bin durch. 2,5 Min. übrig, Fraaaaagt nicht! …das ist hier meine letzte TdF!“
Diese zugegeben wenig optimistisch klingenden Zeilen waren für mich trotzdem erst mal super, denn es bedeutete: Roberto ist noch im Rennen und er hat sich heute nicht dem allgemeinen Trend des vorzeitigen Feierabends angeschlossen. So weit, so gut! Allerdings muss auch ich gestehen, dass schon allein beim Anschauen der Etappe im Fernsehen eine ordentliche Portion Mitleid aufkam. Sowohl für Wagi als auch für alle anderen und erst recht für die vielen Sturzopfer. Auf jeden Fall war das eine Etappe, an die man sich noch länger erinnern wird! Und auch Wagi wird diesen Tag sicherlich so schnell nicht vergessen:
"Ich muss zugeben, dass ich mir heute tagsüber echt Gedanken gemacht habe, wie es mit unserem Tour-Tagebuch hier weitergehen soll. Ich hatte tatsächlich kurz mal ein bisschen Angst, dass die Aktion noch vor dem Beginn der zweiten Tourwoche beendet sein könnte, aber zum Glück waren das nur ein paar kurze und unnötige Gedanken!
Da es heute ab dem Start direkt den Berg hoch ging, haben wir uns alle ordentlich auf der Rolle warmgefahren und gingen so schon gut angeschwitzt zum Start. Für mich persönlich ist das bei solchen Etappen immer ganz wichtig, da ich tatsächlich sowas wie 'ne Betriebstemperatur benötige.
Dass ich dann im ersten Anstieg direkt schon das Ende des Feldes beobachten durfte - und zwar von hinten - war natürlich so nicht gedacht, aber das Rennen war für mich einfach zu schnell. Die Sunweb-Boys sind vorne gefahren wie der Teufel und mir bleibt da nichts weiter übrig, als sie zu verfluchen! Ich kann mich schon einigermaßen einschätzen und versuche natürlich auch, mich da etwas zu steuern und weil ich nun mal mit meinen knapp 76 Kilo definitiv kein Leichtgewicht bin, muss man das alles auch immer in Relation sehen.
Ich bin am ersten Anstieg schön über elf Kilometer mit 400 Watt gefahren, das ist definitiv nicht wenig. Ich biss mich also durch und redete mir wie immer gut zu: Cool bleiben, Rhythmus fahren, die Situation ist ja nun nicht neu! Seit meiner ersten Tour im letzten Jahr bin ich da inzwischen schon routiniert. Oben kam ich dann auch wieder zurück in Richtung Peloton bzw. in das, was davon übrig geblieben war. Auf der Abfahrt konnte ich mich dann zurückkämpfen.
Glücklicherweise wurden die Berge jetzt von Mal zu Mal länger und dafür auch steiler - also wieder genau mein Ding! In meiner Gruppe, die zu dem Zeitpunkt schon so was wie den Beginn des Gruppettos darstellte, war entsprechend der Rennsituation auch die Stimmung auf dem Siedepunkt und ich will Euch auch nicht verheimlichen, dass der zweite ekelige Berg des Tages, der "Col de la Biche“, relativ schnell von uns umbenannt wurde. Das „Biche“ wurde an drittletzter Stelle um ein "t“ erweitert und das "e“ am ende haben wir weggelassen. Wie heißt es so schön? "Not macht erfinderisch!“
Inzwischen waren auch Sibi (Marcel Sieberg), André (Greipel), Marcel (Kittel) und Bernie Eisel in meiner Gruppe, gemeinsam gingen wir in die Abfahrt. Ich muss sagen, selten bin ich eine Etappe gefahren, bei der die Abfahrten so wenig Erholung brachten. Absolut ruppig und permanent schlechter Belag - Spaß hast Du da definitiv keinen. Hinzu kommt, dass ich mich seit ein paar Tagen mit ziemlich unangenehmen Sitzproblemen rumschlage. Da hilft alles eincremen und salben nichts. Zwei Wochen ohne Rad wären wohl die einzig wirksame Therapie.
Wir Rennfahrer legen natürlich alle sehr großen Wert auf die Pflege des Sitzbereichs und haben auch alle ein Sitzpolster in der Rennhose, das wir uns selbst ausgesucht haben. Jeder hat da so seine Vorlieben und diese werden auch bedient. Zusätzlich schmiert man sich reichhaltig Sitzcreme auf das Polster und wechselt selbstverständlich die Hose täglich. Dennoch kann es bei solch hohen Beanspruchungen immer zu Irritationen kommen und wenn man dann noch so reudige Straßen vorfindet, geht einem das eben wirklich "auf den Sack!“
Als wäre die Gesamtsituation also nicht schon strapaziös genug gewesen, ereilte mich dann das
Schicksal auf dem Wege zum "Grand Colombier“ noch mal so richtig. Aufgrund der schlechten Straßen sprang mir irgendwann die Kette ab und verknotete sich anschließend auch pflichtbewusst mit der Schaltung. Zum Glück hatten wir in diesem Moment einen Materialwagen hinter uns und ich konnte relativ schnell die Karre wechseln.
Was mir aber in dem Moment gar nicht klar war, war die Tatsache, dass ich ja extra auf 36/30 hatte umketten lassen. Mein Ersatzrad hatte freilich diesbezüglich kein Update bekommen und ich sage Euch: In dem Moment, als ich realisiert habe, dass mein neuer Ermüdungsapparat mich nun mit 39/28 penetrieren sollte und als gleichzeitig gefühlte 20 Prozent zu bewältigen waren, hätte ich wirklich flennen können. Vielleicht habe ich es sogar getan… Das war definitiv der Tiefpunkt des Tages! Die Rückfrage beim sportlichen Leiter im Auto, ob wir das nicht noch geändert bekommen, verpuffte leider auch völlig… "Nein.“
Ich quälte mich also wirklich den Colombier hoch und inzwischen hatten wir jetzt auch mit 50 Mann das Gruppetto komplettiert. Wen aber denkt, es kehrte Ruhe ein, der irrt gewaltig! Denn nun begann das große Rechnen und nahezu jeder Teamchef gab eine andere Auskunft, wieviel Zeit wir denn noch hätten. Das war definitiv eine spannende Sache! Und wenn ich das noch anmerken darf: Die Abfahrt vom Colombier war definitiv die gefährlichste Abfahrt seit langem! So schlechte Straßen braucht kein Mensch. Den letzten Berg mit knapp 8,9 Kilometern nahmen wir also recht zügig in Angriff und ich wäre beinahe ein zweites Mal ausgeflippt, da das Ding vor den 8,9 Kilometern schon acht Kilometer Anstieg als "Warm Up“ mit sich brachte. Wozu das auch mitzählen? Mann Mann Mann!
Da keiner so genau wusste, wieviel Zeit noch bleiben würde, sind wir die letzte Abfahrt dann auch mit Vollgas runter geballert. Ein paar Jungs mit GPS am Rad sind vorgefahren und konnten so die Kurven etwas besser einschätzen. Da haben wir definitiv keine Zeit verloren! Gleiches gilt für die letzten Kilometer im Tal. Ich behaupte mal, dass wir bei einer Sprintankunft nicht viel schneller gewesen wären! Da war richtig Finale! Mit dem Gruppetto so sehr gehafert bin ich auch selten. Unterm Strich waren wir schließlich ganze 2:30 Minuten vor Toresschluss im Ziel und ich will gar nicht daran denken, was wäre, wenn wir da später ankommen. Sicherlich nehmen die keine 50 Mann raus - aber lieber so als anders.
Bei Sportsfreund Démare lief es heute nicht ganz so prall, und dass er noch mal 20 Minuten nach uns ankommt, zeigt, wie schnell es vorbei sein kann! Was uns alle etwas ärgert, ist dass wir am Vortag, als das Rennen auch so super schnell war, noch massig Zeit "übrig“ hatten und dass das heute komplett anders aussah. Hier sollte die ASO (Tour-Organisatoren) sich mal was einfallen lassen!
Leider müssen wir im Team auch zwei herbe Verluste hinnehmen und das ist natürlich bitter! Jos van Emden war einfach fertig und am Ende seiner Kräfte - das kann schon mal passieren. Aber der Sturz von Robert Gesink ist eine Katastrophe. Er hat sich den ersten. Lendenwirbel gebrochen und so wie es aussieht, wird er in diesem Jahr nicht wieder auf dem Rad sitzen können. Und das bei seiner tollen Form. Folglich wird es nun leerer im Teambus (der zum Glück wieder heile ist) und auch unsere portablen Klimaanlagen sind jetzt mit einer Quote von fünf Geräten auf sieben Fahrer deutlich besser verteilbar.
All die anderen Teams müssen auch mit den vielen Ausfällen umgehen… Wahnsinn, welchen Tribut diese Etappe gefordert hat. FDJ minus vier Mann…. unglaublich. Und ich bin auch mal gespannt, was aus Rafal Majka wird. Als ich mit meinem "Ketten-Karussel“ an ihm vorbei rollte, lag er noch am Boden und sah wirklich aus wie ein Schnitzel!
Ich wünsche allen gestürzten Fahrern eine schnelle Erholung!
Nach dem Ziel hieß es heute: schnell duschen, ab in den Bus und direkt zum Flughafen. Mit vier Flugzeugen wurden alle Fahrer heute gut 45 Minuten geflogen und konnten sich so den Transfer im Auto sparen. Für unsere Betreuer hingegen hieß es 500 Kilometer im Auto. Auch Respekt vor dieser Leistung. Eine Massage gibt es daher heute keine - aber morgen haben wir ja zum Glück viel Zeit! Unser George Bennett liegt jetzt auf Platz zehn in der Gesamtwertung und unser Ski-Springer ist Zweiter in der Bergwertung. Insgesamt stehen wir also ganz gut da. Das stimmt optimistisch.
Unseren Ruhetag verbringen wir nun übrigens in Perigueux. Hier war ich zusammen mit Paddi und auch mit André Greipel schon mal vor vielen Jahren! Im Jahre 2004 sind wir im damaligen TEAG Team Köstritzer die "Tour de la Dordogne“ gefahren und haben uns schön jeden Tag vermöbeln lassen. André konnte auf einer oder zwei Etappen gute Ergebnisse einfahren, aber allgemein haben wir da ordentlich gelitten. Das beste war, dass damals auf der Hinreise unser Bus kaputt ging und wir Fahrer dann ohne unseren Trainer Gerald Mortag angereist sind. Das hatte so ein bisschen was von Klassenfahrt… Die gute alte Zeit! Der Witz ist, dass ich erst beim Einsteigen in den Flieger gecheckt habe, dass wir tatsächlich da hinfahren… Auch wieder geil!
Titi Voeckler habe ich heute den ganzen Tag nicht gesehen - aber das kann auch andere Gründe haben. Eins steht jedoch fest: Er wird nicht einfach so verduften… …und natürlich auch noch das: Die Aussage, dass dies die letzte Tour ist, kann im Angesicht der totalen Ermüdung schon schnell mal kommen - nehmt das mal nicht zu ernst!
Jetzt heißt es Beine hoch!
Bis morgen
Euer Wagi und Paddi
PS: Wir freuen uns sehr, dass Ihr alle so viel Spaß beim lesen des Blogs habt.
Wenn ihr mögt, schaut Euch doch mal Paddi s Buch über die Tour im letzten Jahr an - das wird Euch definitiv auch gefallen. Wagi kommt dabei natürlich auch nicht zu kurz. "DNF - Dienstreise Nach Frankreich“ ist pünktlich zum Tourstart 2017 erschienen und es werden 5€ je verkauftem Buch an den deutschen Radsport-Nachwuchs gespendet. Alle Infos unter: www.dienstreise-nach-frankreich.de
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