2. Juni - Bormio - Rennbericht
Granfondo Stelvio: Und einer fehlt...
Von Oliver Knott
| Foto: Oliver Knott
04.06.2019 | ... nicht irgendeiner, nein, quasi die Hauptperson, der Stelvio!
Irgendwie war es ja schon zu befürchten. Der Giro, am vergangen Dienstag zu Gast in der Region, musste die Passage über den Gavia streichen - und das ist ja ein direkter Nachbar des Stelvio, wie das Stilfser Joch auf italienisch heißt.
Gebannt verfolgte ich seitdem den Wetterbericht.
Am Mittwoch war es dann leider soweit: Der Veranstalters informierte, dass die Straßenbehörden den abschließenden Anstieg zum Joch weiter geschlossen halten, wegen Lawinengefahr. Man wird jedoch versuchen, eine attraktive Alternative zu bieten...
Diese wurde dann vorgestellt - mit den entschuldigenden Worten, dass das Stilfser Joch natürlich durch nichts zu ersetzen sei. Das neue Ziel hieß Cancano-Seen, der Anstieg Torri di Fraele, gelegen auf 1950 Metern. Dort wurde eine Straße für den Bau von zwei Stauseen errichtet. Sie schlägelt sich in 17 Kehren eng am Hang empor.
Irgendwie war es dann doch eine Enttäuschung,
anstelle auf dem Dach der italienischen Alpen nun in gut 1900 Meter zu finishen. Es klang nicht nach einer besonders berauschenden Alternative. Aber dann werden an diesem Wochenende eben drei unbekannte Anstiege bewältigt: Gibt drei neue Pins in die Landkarte mit den Zentral-Alpen, die bei mir zuhause an der Wand hängt.
Am Samstag früh ging es in Moosburg los. Nach gut fünf Stunden Fahrzeit erreichte ich Bormio, wo ich gleich den Startbeutel abholte und mein Hotel Funivia in zentraler Lage bezog. Im Beutel fanden sich allerhand nützliche Sachen, unter anderem ein Trikot des Sponsors und "Co-Namensgebers" Santini. Es ist obligatorisch, dass alle Teilnehmer in diesem Trikot an den Start gehen.
Noch eine Besonderheit: Man fährt zwar mit Transponder,
es wird auch die Gesamtfahrzeit gemessen. Es gibt jedoch keine Rangliste, sondern nur eine alphabetische Auflistung der Teilnehmer und die Angabe ihrer jeweiligen Fahrzeit. Das Ranking und die Prämierung der Sieger erfolgt anhand der Zeiten der drei Anstiege Teglio, Mortirolo und in diesem Jahr nicht Stelvio, sondern Torri di Freale.
Das macht die ganze Sache zur einer Angelegenheit für Bergflöhe. Da ich mich nicht zu diesen zähle und sowieso keine Aussicht auf die vorderen Reihen der Wertung hatte (wie immer), war für mich die Gesamtzeit von Interesse, auch ohne Ranking.
Gestartet wurde am Sonntag um 7 Uhr. Wer mochte, konnte einen Beutel mit seiner Startnummer versehen abgeben, der dann zum Ziel gebracht wurde. Dies ist sicherlich sinnvoll, wenn das Ziel oben auf dem Stilfser Joch liegt, oder eher kühle Temperaturen angesagt sind.
Der vergangene Sonntag machte seinem Namen
jedoch alle Ehre, und selbige strahlte in ihrer vollen Pracht vom Himmel, so dass ich den Service nicht in Anspruch nahm.
Vom Start weg ging's mit Vollgas, denn Bormio liegt auf einer Höhe von 1200 Metern; der Beginn des ersten nennenswerten Anstieges, hinauf zur Gemeinde Teglio, liegt nach 47 gefahrenen Kilometern auf etwa 450 Metern.
Ich fahre ja echt gerne bergab, auch schnell bergab, aber in den steileren Stücken des ersten Streckenabschnitts mit zum Teil mehr als Tempo 80 im Pulk, mit acht bis zehn Mann nebeneinander, auf den gewohnt löchrigen italienischen Straßen zu fahren - das ist schon etwas gewöhnungsbedürftig.
Nach gut 20 Kilometern war ich live dabei,
wie sich ein Teilnehmer, etwas links vor mir fahrend, mittels Salto aus dem Rennen verabschiedete. Er hatte sich wohl am Hinterrad seines Vordermanns aufgehängt. Zum Glück nicht in einem Teilstück mit Höchstgeschwindigkeit, aber ein Überschlag bei 45 km/h ist sicher auch nicht das, was man sich am Morgen beim Aufstehen für einen Sonntag wünscht.
Hätte man sich vorher nicht mit der Streckenkarte beschäftigt, dann könnte man am Teglio schon meinen, den Mortirolo erreicht zu haben: Giftig kommt dieser Anstieg daher, voll in der Morgensonne liegend begrüßt er die Teilnehmer auf einem kleinen versteckten Sträßchen gleich mal mit freundlichen zwölf Prozent.
Die Umstellung von Highspeed zum kraftvollen Bergauftreten braucht einen Augenblick, zumal ich in der Abfahrt feststellen musste, dass mein Brustgurt trotz neuer Batterien offensichtlich falsche Werte sendet. Also lieber vorsichtig, ich habe heute ja noch so einiges vor mir.
Als der Weg nach gut dreieinhalb Kilometern
auf die Hauptstraße trifft, flacht es etwas ab und das Treten wird wieder deutlich runder. Immerhin waren im Verlauf des Anstiegs knapp unter 20 Prozent zu meistern.
Glück gehabt nach der Abfahrt, da ging nämlich just in dem Moment, als ich unten im Tal ankam, die Bahnschranke auf, an der sich schon eine Gruppe von rund hundert Radlern, vermutlich die Spitze, versammelt hatte.
Jetzt hieß es also Zähne zusammenbeißen und dranbleiben - denn hier war auch der tiefste Punkt der Strecke erreicht und fortan ging es im Wesentlichen nur noch bergauf. Teils leicht ansteigend, teils in Wellen. In den steileren Stücken hatte ich meine Mühe, in der Gruppe zu bleiben, auf der Ebenen ging es dagegen erstaunlich gut, bis bei Kilometer 80 der Scharfrichter des Wettbewerbs, der Mortirolo auf die Teilnehmer wartete.
Als Vorbereitung hatte mir am vergangenen Dienstag
die Etappe des Giro ganz genau angeschaut. Außer, dass einem die Sportler wegen des Regens und der kalten Temperaturen leidtun konnten, sah alles recht locker aus, zumindest bei den im Bild gezeigten Profis aus der Spitzengruppe und den Klassement-Fahrern.
Geschichten hatte ich im Vorfeld einige gehört, und unter anderem den Tip bekommen, in den steilsten, nicht mehr geteerten, sondern betonierten Passagen nicht zu fahren, sondern zu schieben. Begleitet von Hinweistafeln, die alle Kilometer die Rest-Distanz zum Gipfel rückwärts zählten, kurbelte ich mit meiner 34/32-Übersetzung Höhenmeter um Höhenmeter herunter. Der Brustgurt verrichtete zwischenzeitlich auch wieder seinen Dienst und so musste ich auf dem Pulsmesser mit ansehen wie sich mein Pulsschlag in einem in letzter Zeit nicht häufig gesehenen Bereich einpegelte.
Zumindest war noch eine 60er Trittfrequenz zu halten,
was sich angesichts der Steilheit gar nicht so schlecht fuhr. Irgendwo, nachdem die 2-km-Marke erreicht war, dachte ich mir, das Gröbste überstanden zu haben - und konnte gar nicht verstehen, worin der Schrecken des Berges liegen soll. Ich lächelte, hoffentlich nicht zu gequält, in die Kamera des dort postierten Fotografen, bog um die nächste Ecke - und sah das Grauen vor mir.
Die Betonpiste ragte gefühlt senkrecht gen Himmel, erste Radler schoben ihr Bike tatsächlich. Jetzt war mir klar, was gemeint war. Doch für einen Pin in meiner Landkarte kann ich doch nicht schieben, da muss ich fahren. So wuchtete ich, mit einer Trittfrequenz von zum Teil unter 40, die Pedale fast im Stehen herum. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körpergewicht es gerade eben so schaffte, das Pedal nach unten zu drücken.
Der Garmin verabschiedete sich immer wieder
in die Auto-Pause, die bei 5 km/h eingestellt ist. Weiter oben, nach einer gefühlten Ewigkeit, standen Zuschauer am Straßenrand und ermutigten die Teilnehmer mit den Worten „ultimo trecento metri“, also die letzten dreihundert Meter. Auf denen wurde es optisch deutlich flacher und ich wollte schon einen Gang hochschalten - da hatte ich plötzlich das Gefühl, dass sich jemand von hinten angeschlichen und die Bremse zugedreht hat.
Nein, keine Sabotage, das optisch Flachere schlug immer noch mit 14 Prozent zu Buche, und so zogen sich die letzten 300 Meter wie Kaugummi. Doch dann: Geschafft! Der Pin darf zurecht den erklommenen Anstieg markieren...
Um die technisch schwierige Abfahrt richtig genießen zu können, musste ich noch an zwei Mitbewerbern vorbei, denn freie Sicht ist für mich das „A und O“, um den idealen Bremspunkt und die Ideallinie zu finden, speziell wenn wie hier Licht und Schatten und grober Fahrbahnbelag noch dazu kommen.
Nach der Abfahrt begann die Rückfahrt
Richtung Bormio, auf derselben Hauptstraße, die wir schon am Morgen benutzt hatten. Immerhin waren bis dahin noch etwa 450 Höhenmeter in Wellen zu überwinden, die ich in einer größeren Gruppe absolvierte. In Bormio, an der letzten Verpflegung, stärkte ich mich noch für die Auffahrt zu den Cancano-Seen und füllte die bedrohlich leeren Flaschen.
Die Höhenmeter bis zum eigentlichen Abzweig zu den Stauseen liefen noch wie am Schnürchen, aber mit den Anstiegen war die Luft raus. Nach und nach wurde ich überholt, teilweise in einer Geschwindigkeit, dass ich mir nur dachte „Wo habt ihr denn euren Motor versteckt“. Sicherlich nirgends...
Es ist eben die Charakteristik hier,
dass für das offizielle Ranking nur die Bergauf-Fahrzeiten zählen. Wer es darauf anlegt, der muss dazwischen Körner sparen, um zügig hoch zu fahren. Mir war es zu warm, und ich konnte mich nicht mehr wirklich motivieren, mich so richtig zu quälen. Nein, die Schmerzgrenze war in dem Moment erreicht, und mein Ziel war es, mit Anstand und Würde oben anzukommen.
Bevor der Zielbogen passiert und die Finisher-Kappe überreicht wurde, gab es noch ein klein wenig Strade-Bianche-Feeling, denn auf den letzten zwei Kilometern musste noch eine Naturstraße bewältigt werden.
Mein Fazit: Alles in Allem war der Granfondo Stelvio auch ohne Stelvio eine ausgesprochen gelungene Veranstaltung. Die Organisation ist hervorragend, selbst das Booklet, das sich im Startbeutel befand, wurde noch kurzfristig um die neuen Strecken ergänzt. Im Ziel habe ich mir sagen lassen, allein die Verpflegungsstellen seien schon eine Reise wert. Wie meistens habe ich diese nicht in vollen Zügen genutzt - das ist halt das Problem, sobald ein Transponder am Rad hängt. Und ob ich den Stelvio an diesem Tag hätte genießen können, sei mal dahingestellt...