Watterotts Il Lombardia-Retrospektive / Teil 1

Premiere im November und Chaos in Mailand

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

02.10.2014  |  (rsn) - Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) / Teil 1

Rund um die Jahrhundertwende 1900 gibt es in Italien nur ein internationales Rennen, das regelmäßig ausgetragen wird und zwar Mailand-Turin seit 1876.

Im Jahr 1903, als in Frankreich die erste Tour de France startet, wird die Idee geboren, ein großes klassisches Eintagesrennen auf die Beine zu stellen. Vertreter des Touring Club Italiano und einige Herausgeber von Zeitungen stecken ihre Köpfe zusammen und tauschen ihre Ideen aus. Ein großes Rennen durch die Provinz Lombardei zu veranstalten ist ein immenses Problem, denn meistens gibt es nur Eselspfade und Wege für Fußgänger, aber keine breiten Straßen, um ein Radrennen durchzuführen.

Im Winter 1904 inspizieren einige starke italienische Rennfahrer wie Pavesi, Galetti, Gerbi und andere das Terrain und finden meist nur bis zu 40 Zentimeter breite Sträßchen vor. Und zwischen den Städten Mailand und Lodi verkehrt auch noch die Straßenbahn auf entsprechenden Gleisen. Eines ist klar, es wird ein Abenteuer, bei dem man auch wie bei einem Querfeldeinrennen sein Rad schieben muss. Aber die große italienische Sportzeitung La Gazzetta dello Sport, die auf rosa Papier gedruckt wird, übernimmt die Organisation.

1905 – Die Premiere
Am 12. November ist es soweit. Die erste Lombardei-Rundfahrt über 230 Kilometer von Mailand und wieder zurück auf die Piazza del Duomo wird gestartet. Der große Favorit heißt Giovanni Gerbi aus Asti, den sie den „Roten Teufel“ nennen. Er hat die Strecke Meter für Meter ausgekundschaftet und alle schwierigen Stellen und Passagen in sein kleines Notizbuch geschrieben. Gut ausgebaute Straßen sind damals Mangelware im Norden der Lombardei, von Löchern und Steinen übersäte Wirtschaftswege und Eselspfade die Regel. So verlangt das erste Rennen der fallenden Blätter vor allem Mut und Ortskenntnis.

Gerbi, übrigens der erste Italiener der bei der Tour de France startete, ist mit allen Wassern gewaschen und kennt alle Tricks, um sich einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen und zu gewinnen. Als Einziger kennt er die Schlüsselstelle im Streckenprofil, einen gefährlichen Bahnübergang, der nur zu Fuß zu meistern ist. Ein Tag vor dem Rennen legt er ein Brett auf die Schienen und kann so in vollem Tempo über die Gleise fahren, während rechts und links die Konkurrenten stürzen. Mit fast 41 Minuten Vorsprung erreicht Gerbi das Ziel in Mailand vor seinen Landsleuten Rossignoli und Ganna.

1907 - Wieder ein Coup mit unlauteren Mitteln
Giovanni Gerbi will wieder gewinnen und greift zu unsauberen Tricks. 35 Kilometer nach dem Start hat er seine Anhänger an der Steigung von Busto Arsizio postiert. Zu Beginn der Steigung greift der gerissene Gerbi plötzlich unter dem Jubel der Tifosi an. Die italienischen Fans schließen nach seiner Durchfahrt die Straße und verteilen zahllose Nägel auf den holprigen Belag. Zudem werfen seine Landsleute am Straßenrand ein Fahrrad auf den Weg, um die französischen Verfolger zu stoppen.

Die Organisatoren der Gazzetta dello Sport greifen endlich ein und disqualifizieren Gerbi. Mit dem Franzosen Gustave Garrigou, in seinem ersten Profijahr, wird dadurch zum ersten Mal ein Ausländer Sieger des Giro di Lombardia.

1982 widmet der italienische Sänger Paolo Conte, der wie Gerbi aus Asti in der Region Piemont stammt, diesem das Lied Diavolo Rosso, der Spitzename von Giovanni Gerbi.

1909 – Das größte Feld der Geschichte
Das Rennen gewinnt in wenigen Jahren schnell an enormer Popularität. Ein unüberschaubares Fahrerfeld von 355 Teilnehmern steht diesmal am Start, davon kommen 294 ins Ziel. Es siegt mit Giovanni Cuniolo erneut ein Italiener. Der Veranstalter La Gazzetta dello Sport muss neben der übergroßen Meldeliste noch mit einem anderen Problem kämpfen. Jedes Jahr steigt die Zahl der wütenden Leserbriefe, die in der Redaktion eingehen. Die Leute drohen ihre Abonnements zu kündigen, wenn das Rennen nicht durch ihre Provinz und ihren Ort führt.

1913 – Chaos in Mailand
Als in diesem Jahr Mailand sowohl Start- als auch Zielort ist, kommt es bei der Anfahrt des Feldes auf die Trabrennbahn im Trotter-Park der lombardischen Metropole zu einem heillosen Durcheinander. Ein Fan rennt unverhofft auf die Bahn und bringt den französischen Sieger von 1911, Henri Pelissier, zu Fall. Als die Fahrer hinter dem Ziel von der Bahn fahren, schlingert ein Fahrzeug plötzlich auf die Strecke. Am Ende gewinnt Pelissier zum zweiten Mal die Lombardeirundfahrt.

1917 – Die erste und einzige Frau am Start
Zweimal startet, als das Starterfeld offen war, eine Frau namens Alfonsina Morini-Strada aus Castelfranco Emilia. Sie belegt 1917 nach 204 km mit einer Stunde und 34 Minuten Rückstand den 32. und letzten Platz hinter dem belgischen Sieger Philippe Thys. Ein Jahr später fährt sie ein zweites Mal und wird 21. vor mehreren männlichen Rennfahrern. Sie erhält den Spitznamen „Il diavolo in gonnella“ – Teufel im Rock.

Alfonsina Morini-Strada ist die einzige Frau, die jemals an einer der großen Landesrundfahrten - Tour, Giro und Vuelta - teilnimmt. 1924 startet sie beim Giro d’Italia, weil die Organisatoren glauben, dass sie ein Mann sei. Ihre Radsport-Karriere dauert 26 Jahre. Das Rennrad, mit dem sie die Lombardei-Rundfahrt bestritt, befindet sich im Museo del Ciclismo Madonna del Ghisallo in der Nähe des Comer Sees.


Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 73-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden. 

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