Erfurter macht psychische Erkrankung öffentlich

Aschenbrenner: “Der Radsport zog mich runter“

Von Christoph Adamietz

Foto zu dem Text "Aschenbrenner: “Der Radsport zog mich runter“"
Michel Aschenbrenner | Foto: Sebastian Paddags

25.07.2023  |  (rsn) – Psychische Probleme werden oftmals – wenn auch völlig zu Unrecht – als Zeichen der Schwäche gewertet und sind gerade im Leistungssport noch immer ein Tabuthema. Michel Aschenbrenner, der bis zur letzten Saison für das deutsche Kontinental-Team P&S Benotti fuhr und unter anderem zwei UCI-Siege feiern konnte, hat dagegen nun ein Zeichen gesetzt und seine Erkrankung in einem Video öffentlich gemacht.

Im Gespräch mit radsport-news.com verriet der 23-Jährige, dass ihm dieser Schritt "gar nicht schwer“ gefallen sei. "Ich war froh, dass ich das mit anderen Leuten teilen konnte. So merken andere Menschen, die auch psychisch erkrankt sind, dass es jeden treffen kann.“

Sein langjähriger Teamchef Lars Wackernagel unterstützte Aschenbrenner auf diesem schwierigen Weg und steht zu 100 Prozent hinter der Entscheidung des Sprinters, mit dieser Thematik an die Öffentlichkeit zu gehen. “Asche ist ein gutes Beispiel dafür, wie man als Betroffener damit umgehen sollte. Die Schwäche liegt hier leider bei jenen, die sich von gesellschaftlichen Zwängen beeindrucken lassen. Die Stärke hingegen bei denen, die das Thema angehen und lernen, darüber zu sprechen. Asche hat vieles sehr richtig gemacht und hatte auch immer die Unterstützung, die es benötigt, um in solch schweren Zeiten selbstbewusst zu agieren“, sagte Wackernagel zu radsport-news.com.

Aschenbrenner fand Hilfe in einer Psychotherapie

Die Reaktionen auf das Video seien durchweg positiv gewesen. "Ich muss zugeben, dass ich sehr erstaunt bin. Ich hätte nicht gedacht, dass sich so viele Leute das Video anschauen und dann auch noch ihr Feedback abgeben“, meinte Aschenbrenner.

Hilfe fand der Thüringer bei einer Psychotherapie, in der eine anfängliche Depression und eine Anpassungsstörung diagnostiziert wurden. Die Ursache seiner Erkrankung wurde ihm im Rahmen der Behandlung auch bewusst. "Neben dem Radsport hatte ich nichts, was ich als Ausgleich machen konnte. Wenn ich was gewonnen hatte, war alles schön und gut. Aber wenn etwas Schlechtes passiert ist, konnte ich das nicht wirklich kompensieren und einen Ausgleich dafür finden. Ich denke, das hat mir im Endeffekt den Stecker gezogen“, berichtete Aschenbrenner. Zudem sei er ein sehr ehrgeiziger und perfektionistisch veranlagter Mensch, der hohe Anforderungen an sich selbst stelle. "Das geht dann Hand in Hand und man treibt sich in den Wahnsinn“, so Aschenbrenner, der zugab: "Ich selbst hatte das gar nicht erkannt.“

Erst Gespräche mit seinem Teamchef Lars Wackernagel und dann mit seiner Psychologin machten ihm klar: "Es ist der Radsport, der mich runterzieht.“ Nach einem schweren Sturz beim Bundesliga-Rennen in Gippingen / Schweiz sei ihm langsam klar geworden, dass etwas nicht stimme. Aschenbrenner zog sich großflächige Schürfwunden und ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma zu. In sein Gedächtnis brannte sich aber ein, dass er bei dem Unfall, in den auch das Begleitfahrzeug seines Teams verwickelt war, ums Leben hätte kommen können. "Ich hatte immer diese Bilder im Kopf mit dem Szenario, dass ich auch unter den Reifen geraten und sterben können. Das hat mich fertig gemacht“, so Aschenbrenner.

“Die Freude am Leben war nicht mehr da“

Nach einer einwöchigen Trainingspause kehrte er wieder aufs Rad zurück, doch sein Teamchef Wackernagel suchte das Gespräch. "Lars hat mich gefragt, ob ich das überhaupt will und ob es mir noch Spaß macht. Das habe ich verneint und ihm entgegnet, dass ich mich gerade quäle, aufs Rad zu gehen“, sagte Aschenbrenner.

Dabei sei es ihm auch schon vor dem Sturz nicht gut gegangen. "Ich hatte schon zuvor bei den Trainingseinheiten Probleme, morgens aus dem Bett zu kommen, mich zu motivieren. Eigentlich bin ich ein pünktlicher Mensch, bin irgendwann aber mal fünf oder zehn Minuten zu spät zum Training gekommen, bin schlampig geworden, hatte kein wirkliches Sozialverhalten mehr und die Freude am Leben war einfach nicht mehr so da“, berichtete Aschenbrenner weiter.

Michel Aschenbrenner (rechts) mit seinem langjährigen Teamchef Lars Wackernagel. Foto: Mario Stiehl

Er sei auch schnell ermüdet, was er bis dahin nicht von sich gekannt hatte. Als Wackernagel nachfragte, warum die Werte nicht stimmten, habe er zwar seine Müdigkeit angeführt. "Aber ich habe es nicht so ernst genommen und einfach erstmal so weiter gemacht.“ Im Herbst 2022 zog er schließlich die Reißleine und beendete nach Rücksprache mit Wackernagel seine Karriere.

Aschenbrenner erhielt volle Unterstützung von seinem Teamchef

Vom Teamchef erhielt Aschenbrenner in der schwierigen Phase volle Rückendeckung. “Man darf so ein Thema nicht wegschieben. Ich hätte genau so gut sagen können: `Asche, reiß dich zusammen und mach weiter. Wir müssen unsere Sponsoren zufrieden stellen`. Dann wäre aber das Vertrauen nicht gewachsen“, betonte Wackernagel. Zwischenmenschliches Vertrauen aber sei die Basis, um das Thema psychische Erkrankung überhaupt angehen zu können.

Angst vor Fehlern im Umgang mit Aschenbrenner hatte der 47-Jährige nicht, denn “Miteinander reden ist ja so oder so immer der richtige Ansatz. Dagegen ist Durchhalten und einfach Weitermachen ein ganz schlechter Berater. Wir haben immer wieder miteinander gesprochen“, so Wackernagel.

Mittlerweile geht es dem 23-jährigen Aschenbrenner wieder deutlich besser, er hat ein Studium der Sportwissenschaft begonnen. "Das Studium ist super, ich lerne viel dazu, das gibt auch Aufwind. Es tut gut, etwas Anderes zu machen, was aber auch eine Verbindung zu dem hat, was man jahrelang zuvor getan hat. Man hat auch mit Leuten zu tun, die nicht in diesem Leistungssport-Business drin sind, man steckt nicht mehr so in der Bubble drin, kann länger aufbleiben, hat mehr Zeit für die Familie“, sagte der Erfurter.

Elementar für die erfreuliche Entwicklung sei laut Wackernagel auch gewesen, dass sich sein langjähriger Schützling der Problematik bewusst wurde und sich dem Thema stellte. “Asche hat schnell für sich entdeckt, dass es sehr hilfreich ist sich, damit auseinander zu setzen. Ich kenne Menschen, die das Dreifache an Zeit benötigen, weil sie es immer wieder verschieben bis zur totalen mentalen Erschöpfung. Er selber hat bei Zeiten die Weichen gestellt, so dass es ihm jetzt gut geht und er ein gutes Leben führen kann“, meinte Wackernagel.

Rad fährt Aschenbrenner nur noch, wenn er Lust hat

Rad fährt Aschenbrenner nur noch, "wenn ich Lust habe und das Wetter draußen schön ist. Oder wenn die Jungs (von P&S Benotti) eine ruhige Einheit haben, dann drehe ich eine Runde mit ihnen. Ich bin aber sehr froh, dass ich nicht im Rennsport bin und habe aktuell auch keine Sehnsucht danach“, stellte er klar.

Seinem Team P&S Benotti ist er dankbar für die Unterstützung in den letzten Monaten. Vor allem bei Wackernagel bedankte er sich. "Lars hat mich regelmäßig angerufen, gefragt, wie es mir geht, wie es mit der Behandlung läuft. Besser hätte ich mir die Unterstützung nicht vorstellen können“, so Aschenbrenner, der auch aushilfsweise bei seinem Ex-Team als Mechaniker einspringt. “Die Jungs sind ja sowieso meine Freunde und ein bisschen Schrauben kann ich auch. Es ist immer eine geile Zeit und ich kann Lars ein bisschen Arbeit abnehmen, das gibt man gerne zurück.“

Perspektivisch jedoch sieht er sich als Sportpsychologe. "Ziel des Studiums ist es, in diese Richtung zu gehen. Psychologie spielt im Sport eine große Rolle, entsprechend sind auch Sportpsychologen wichtig. Man bricht Erfolge immer nur runter auf Leistung und Material, aber der Kopf ist auch eine riesige, ausschlaggebende Komponente“, fügte er an.

Wackernagel fordert Umdenken in der Gesellschaft

Auch wenn die psychische Erkrankung rechtzeitig erkannt und erfolgreich therapiert werden konnte, so fordert Wackernagel ein grundsätzliches Umdenken in der Gesellschaft. “Wir leben in einer Welt des Durchhaltens. Psychisches Durchhalten, auf das Leistungsfähigkeit im Wettkampf oder in anderen Bereichen nun einmal basiert, ist grenzwertig und sorgt nicht für ein ausgefülltes, glückliches Dasein.“ Wichtig sei, dass man immer den Menschen hinter dem Sportler sehe. “Welchen Einfluss hat das Elternhaus, was bringt der Mensch mit, und wie können wir helfen zu verstehen, dass der Kopf am Ende dafür verantwortlich ist, ob man wirklich schnell Radfahren kann? Auch wenn man 100 Prozent physische Fitness hat, die psychische Fitness aber nur bei 70 Prozent liegt, ist schnell Radfahren schon nur bedingt möglich“, erklärte er.

Zwar ließen sich mit Leidenschaft für eine Sache “Berge versetzen“ und “scheinbar unmögliche Dinge leisten“. Wenn wir uns in diesen Phasen aber immer am mentalen Limit bewegen, wird es von Mal zu Mal schwerer, auch in diesen Phasen glücklich zu bleiben und ein gutes Leben zu führen“, schränkte er ein. “Mentale Ausgeglichenheit“ hingegen sei elementar für ein zufriedenes Leben. So müsste im Sport der Erfolgsdruck etwa durch Sponsoren hintenangestellt werden. “Man kann auch mit Sponsoren reden. So werden sich am Ende Erfolge einstellen und am Ende des Tages sind alle zufrieden.“

Gefragt sei auch der Bund Deutscher Radfahrer (BDR). Der nationale Verband könnte etwa Sportpsychologen anstellen, die dann für die deutschen Fahrer und Teams zur Verfügung stehen – sei es zur Prävention oder im Verdachtsfall einer psychischen Erkrankung. Doch dies sei nur eine Komponente, so Wackernagel. “Jeder kann helfen, egal ob der BDR oder der Nachbar. Was wir benötigen, ist ein Verständnis für das Thema. Man muss sich bewusst machen, in welcher Zeit wir leben und welche äußeren Einflüsse heutzutage auf junge Menschen einwirken. Junge Menschen können aufgrund der vielen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, bei der Entscheidungsfindung schnell überfordert werden. Es ist da sehr schwer, sich auf die wesentlichen Dinge zu beschränken und die richtigen Entscheidungen zu treffen“, meinte der P&S-Teamchef.

Wackernagel kritisiert Soziale Medien und Influencer

Kritik übte Wackernagel auch an den Sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram, die auf der einen Seite durch die Posts zahlreicher Influencer jungen Menschen ein völlig falsches Bild von der Realität vermitteln, zugleich aber auch Ort von Häme und Hetze geworden sind. “Der gesellschaftliche Einfluss ist da sehr groß. Facebook oder Instagram werden einem am Ende des Tages aber auch nicht dabei helfen, aufgefangen zu werden“.

Vielmehr sei das menschliche Miteinander zentral. “Wir alle müssen ein Stück weit mehr aufeinander aufpassen. Es ist dazu enorm wichtig, gute Hilfe um sich herum zu wissen“, so Wackernagel, der aber abschließend anmerkte: “Am Anfang steht jedoch immer die Bereitschaft eines jeden einzelnen, erst einmal zu verstehen, in was für einer Situation er sich befindet und sich anderen gegenüber zu öffnen.“

Diesen Schritt ist Aschenbrenner gegangen, hoffentlich werden ihn noch viele nach ihm gehen.

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