Großes Interview zum Karriereende

Martin: “Lieber auf gutem Niveau abtreten statt als Sturzfigur“

Von Joachim Logisch

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Tony Martin nach dem Gewinn der Goldmedaille im Mannschaftswettbewerb bei der WM in Flandern | Foto: Cor Vos

01.01.2022  |  (rsn) - Mit dem 1. Januar 2022 ist Tony Martin nun offiziell in den Radsportruhestand eingetreten, nachdem er Ende September mit der Goldmedaille bei der WM in Flandern im Teamwettbewerb seine lange und äußerst erfolgreiche Karriere krönen konnte. Radsport-news.com sprach mit dem 36-Jährigen über seine sportlichen Höhe- und Tiefpunkte, den Entscheidungsprozess hin zum Karriereende sowie seine Pläne für die Zukunft.

Sie haben Ende September Ihre Karriere beendet. Sind Sie schon im Radsportruhestand angekommen?
Martin: Bis vor kurzem hat es sich angefühlt wie in der Winterpause. Ich hatte relativ viel Nacharbeit nach der Bekanntgabe meines Karriereendes. Da gab es viel zu tun und ich muss mich jetzt auf einen neuen Lebensabschnitt einstellen, damit gehen auch ein paar bürokratische Dinge einher. Aber jetzt hat sich alles ein bisschen beruhigt und ich kann zunächst mal den Ruhestand genießen. 

Ganz auf Radsport werden Sie aber wegen des Abtrainierens nicht verzichten können…
Martin: Genau, Zielvorgabe sind sechs bis acht Stunden Sport in der Woche. Nicht nur auf dem Rad, sondern auch Joggen gehen und allgemeine Athletik. Wie es von der Familie und vom Wetter her passt, danach richte ich meinen Zeitplan. Meistens bin ich dann drei Mal zwei Stunden unterwegs. Ich habe auch das Cross-Rad für mich entdeckt, mal nicht auf der Straße sein, den Wald ein bisschen erkunden, das macht schon Spaß. 

Haben Sie auch schon an ein E-Bike gedacht?
Martin: Ich fahre die ganze Zeit schon E-Bike, aber nicht, wenn ich Sport treiben will. Eher für die täglichen Erledigungen im Sommer und Herbst bin ich für die kleinen Wege auf dem E-Bike unterwegs. 

Mit etwas Abstand, was waren Ihre sportlichen Höhepunkte?
Martin: Aus meiner Sicht ganz klar mein erster Weltmeistertitel in Kopenhagen, minimal darunter ist mein Etappensieg in Cambrai bei der Tour 2015, gefolgt vom Gelben Trikot. Das waren meine beiden Highlights. Vor allem aber 2011, das Jahr als ich meinen Durchbruch hatte, das ganze Jahr war traumhaft, gekrönt vom Weltmeistertitel. 

Und Ihr sportlicher Tiefpunkt?
Martin: Ganz ehrlich, 2016 die Olympischen Spiele in Rio. Ich hatte schon einige Niederlagen, aber in Rio habe ich mich während des Zeitfahrens selbst aufgegeben und mehr als enttäuschend performt. Das war eines der wenigen Rennen, bei denen ich selbst von mir enttäuscht war. 

Wie ordnen Sie die Etappe hinauf zum Mont Ventoux ein, als Sie dort 2009 Zweiter wurden?
Martin: Das war keine Enttäuschung von mir. Rückblickend bin ich sehr stolz drauf, als nicht klassischer Bergfahrer mit Manuel Garate oben angekommen zu sein, ich war abgehängt, bin wieder zurückgekommen. Klar, das Finale ist dann nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte, es gab ein paar Umstände, die dazu beigetragen haben, das war schade. Am Ende war es aber ein zweiter Platz, über den heute noch gesprochen wird. Das sagt ja auch etwas aus über die Qualität der Etappe. Im Nachhinein schaue ich gerne auf sie zurück. Sicher ein kleines Highlight meiner Karriere. 

Auf welche Umstände spielen Sie an?
Martin: Es gab ja Spekulationen, ob ich finanziell irgendwelche Deals mit Garate ausgehandelt hatte, da wurde ich Jahre später noch angesprochen. Ich weiß natürlich am besten, dass da ganz andere Umstände im Spiel waren. Definitiv keine finanziellen. Das Ziel ist ja nach der Rechtskurve und ich bin den Mont Ventoux zuvor noch nie hochgefahren. An dem Tag war es sehr windig, alle Schilder mit den Meterangaben waren umgefallen oder wurden von der Organisation wegen des Windes umgelegt. Dazu war ich noch im Delirium, bei mehr als 100 Prozent. Ich bin um die Kurve rum und wusste nicht, dass da schon das Ziel war. Und Garate wusste es ganz augenscheinlich. Er hat schon vor der Kurve Schwung geholt. Durch den Überraschungsmoment hatte er einen kleinen Vorsprung und ich konnte dadurch überhaupt nicht in den Zielsprint eingreifen. Er war aber auch ganz einfach der Sprintstärkere. Klar kann man sagen: wie doof. Aber ich war am Anschlag, war froh, dass ich überhaupt noch vorne war. 

Gerade gegen Ende Ihrer Karriere hatten Sie viele Stürze, wie würden Sie diese einordnen?
Martin: Zu Beginn meiner Karriere hatte ich komischerweise so gut wie gar keine Stürze, hinten raus dann doch einige. Ich bin viel gestürzt, es sah nicht immer schön aus. Aber zumindest bei den meisten Stürzen – abgesehen von den letzten zwei, drei Jahren – bin ich immer wieder aufgestanden und konnte weiter fahren. Also ich war nie der Fahrer, der sich das Becken oder den Oberschenkelhals gebrochen hat und der monatelang ausgefallen ist. Ich saß dann meistens zwei Wochen später wieder auf dem Rad. Zum Glück hatte ich auch die mentalen Voraussetzungen, zu sagen: Nach vorne schauen, aufrappeln, weiterkämpfen, die nächsten Ziele sind schon anvisiert. Ich habe da nie groß gezweifelt am Risiko. Das kam erst in den letzten Jahren mit der Familie, den Kindern. Da fängt man an sich zu hinterfragen, wenn man zwei, drei Mal mit Wunden nach Hause kommt, die die Tochter erschrecken. 

Also hatten die Stürze auch Einfluss auf die Entscheidung, die Karriere zu beenden?
Martin: Wenn man eine schöne Karriere hatte, starten irgendwann die Zweifel, ob sich das alles noch lohnt. Ein ganz großer Treiber, dass es sich noch gelohnt hat, war das Team. Es hat sehr viel Spaß gemacht, mit den Jungs zu fahren, mit ihnen erfolgreich zu sein. Letztlich waren meine zwei Stürze in diesem Jahr, vor allem der letzte bei der Tour, ausschlaggebend. Damit meine ich nicht den Sturz mit der Zuschauerin, sondern den, als ich im Straßengraben lag. Das hat man auf den Bildern gar nicht so mitbekommen. Da bin ich 1,5 bis 2 Meter in den Straßengraben rein, mit dem Gesicht aufgeschlagen. Da kamen sofort die ersten Zweifel. Ich habe für mich gesagt, dass ich aber keine adhoc-Entscheidung im Krankenwagen oder im Krankenhaus treffe, sondern den Gedanken reifen lasse. 

Wie ging der Entscheidungsprozess weiter?
Martin: Ich habe mit meiner Familie gesprochen, die mich komplett unterstützt hat. Mein erster Ansprechpartner, als sich der Gedanke manifestiert hat, war Grischa Niermann, mein Sportlicher Leiter beim Team. Er meinte, dass mir das Team sicher keine Steine in den Weg legen wird, wenn ich früher die Karriere beenden will. Das Verständnis war auch bei der hohen Teamleitung sofort da. Vom ersten Gedanken im Krankenwagen bis zum Zeitpunkt dieses Interviews hat sich kein Zweifel bei mir breitgemacht. 

Die WM in Flandern mit der Goldmedaille im Teamwettbewerb wird ihr Übriges getan haben…
Martin: Ja, positiv hinzu kam natürlich der tolle Abschluss in Belgien bei der WM, wo ich am Tag, als wir Weltmeister geworden sind, realisiert habe, dass ich nie wieder einen besseren Abschluss finden würde. Die Atmosphäre war perfekt, die Teams waren perfekt, meine Teamkollegen und auch die Konkurrenten haben mir eine tolle Atmosphäre bereitet. Ich konnte mir keinen besseren Abgang vorstellen, ich bereue nichts und kann auch definitiv sagen, dass es mich nicht zu einem Comeback treiben wird. 

Gab es Gründe für Ihre Stürze?
Martin: Es gibt Zeiten, da hat man extrem viel Pech. Man wird unsicherer, bremst wo es vielleicht nicht nötig war. Vielleicht bin ich da auch in einen Negativstrudel reingerutscht, man denkt mehr nach, zerdenkt das Ganze vielleicht auch. Entsprechend geht man ohne Selbstbewusstsein in die Positionszweikämpfe rein. Ich glaube aber auch, das wäre in den nächsten Jahren nicht besser geworden. Auch von daher war es für mich der logische Schritt. Ich trete lieber ab, wo ich noch ein gutes Niveau hatte, noch schöne Erfolge feiern konnte, ehe ich als Sturzfigur untergehe. 

Hat sich die Frau, die den Sturz mit dem Schild bei der Tour ausgelöst hat, bei Ihnen mal gemeldet?
Martin: Nein, die Menschlichkeit würde es wohl gebieten, dass man da einen Brief schreibt. Aber ich bin auch froh drum, dass ich damit abschließen kann, nicht mehr an die Momente erinnert werde. 

Rohan Dennis soll Ihr Nachfolger bei Jumbo Visma werden. Kann er das?
Martin: Körperlich kann er das auf jeden Fall, und er ist definitiv der stärkere Bergfahrer. Ob er es auch menschlich kann? Ich hoffe es für ihn. Jumbo – Visma ist ein sehr familiäres Team, bei dem man auch viel von sich preisgeben muss. Mir ist das völlig entgegenkommen. Rohan kenne ich zu wenig, um sagen zu können, ob er reinpassen wird. Ich hoffe es für ihn und das Team. Wenn er sich auf das Team einlässt, kann das eine Erfolgsgeschichte werden. 

Sie haben nie mit einem Toursieger zusammengearbeitet. Ärgert Sie das?
Martin: Es ist mir zwar verwehrt geblieben. Aber ich habe es lieber so genommen, mit zwei zweiten Plätzen mit einer Mannschaft, wo wir so genial drum gekämpft haben als wie der erste Toursieg bei Tadej Pogacar, wo das Team bis zum Ende nichts gemacht hat. Ich bin sehr dankbar, dass ich Primoz Roglic und Jonas Vingegaard zum großen Teil begleiten konnte. 

Es sind immer jüngere Fahrer an der Weltspitze zu finden, wie Pogacar und Evenepoel. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Martin: Ich bin sehr froh, dass ich alle vier Jahre U23 durchlaufen habe. Man muss körperlich und mental heranwachsen. In den ersten beiden Jahren war ich der Helfer, habe von den älteren Fahrern viel gelernt und bin dann in die Führungsrolle reingewachsen, habe gelernt, ein Kapitän zu sein, mit Druck umzugehen. Das war eine Schulung, die ich als sehr wichtig empfinde. Natürlich strafen mich Fahrer wie Pogacar und Evenepoel Lügen, aber generell empfinde ich das gesamte Konstrukt U23 als sehr wichtig. Man kann aber nicht generell sagen, was der richtige oder der falsche Weg ist. Evenepoel hat bei den Junioren alles mit drei Minuten Vorsprung gewonnen. Da fragt man sich schon, was er dann noch in der U23 gewinnen will. Aber bei anderen macht es sicher Sinn, dass sie mindestens ein, zwei Jahre in den U23 fahren. Generell ist es ein sehr komplexes Thema, man muss von Fall zu Fall entscheiden. 

Früher sagte man, man hat den Leistungszenit mit 28 Jahren erreicht. Wo soll das dann mit Evenepoel und Pogacar noch hinführen?
Martin: Ich vermute, dass sie vielleicht schon jetzt ihren Peak erreicht haben und es jetzt darum geht, diesen zu halten. Ich hoffe es zumindest. Wenn sie jetzt noch zehn Prozent Leistungspuffer haben, dann könnte es langweilig werden im Radsport. 

Wie geht es bei Ihnen nun weiter?
Martin: Ich werde beim Talentcampus in Kreuzlingen anfangen, das ist eine große Sportschule. Ich werde mich mit den Schülern beschäftigen, die genaue Tätigkeit steht noch nicht fest. Ich lerne erst mal die Schüler und die Schule kennen und wir schauen, wie ich unterstützen kann. Ich freue mich sehr auf diese Basisarbeit, Sport und Schule miteinander zu verbinden. 

Sie sind ausgebildeter Polizeimeister. Ist eine Rückkehr vorstellbar?
Martin: Wenn ich mich bei der Thüringer Polizei melden würde, gäbe es eventuell Wege zurück. Aber ich müsste rechtlich fit gemacht werden, bin ja 14 Jahre raus. Das wäre aber nicht die Leidenschaft, die mich in meinem zukünftigen Berufsleben antreiben würde. Ich möchte mit Kindern arbeiten, im Idealfall mit Kindern, die Sport treiben. Da habe ich mit dem Talentcampus einen tollen Partner gefunden.

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