7. Giro-Etappe 1997

Nach dem Sieg staunte Wüst: “Wir mussten im Puff übernachten“

Von Joachim Logisch

Foto zu dem Text "Nach dem Sieg staunte Wüst: “Wir mussten im Puff übernachten“"
Marcel Wüst gewinnt 1997 die 7. Etappe des Giro d´Italia. | Foto: Cor Vos

15.05.2020  |  (rsn) - Es war einer seiner größten Siege! 1997 gewann Marcel Wüst die 7. Etappe des Giro d’Italia von Lanciano nach Mondragone (206 km). Sein zweiter GrandTour-Erfolg nach dem Etappensieg bei der Vuelta im Jahr zuvor. Doch in große Begeisterung brach der Kölner nicht aus, als er von radsport-news.com nach seinen Erinnerungen gefragt wird. Das liegt wohl daran, dass er hinterher in einem Hotel übernachten musste, das auch als Bordell genutzt wurde!

Aber der Reihe nach! "Ich weiß noch, dass es keine Flachetappe war“, erinnert sich Wüst. "Es war ein Berg drin, mit einem wohl neun Kilometer langen Anstieg. Dort habe ich mich extra abhängen lassen. Ich war gut in Form und hätte noch weiter mithalten können. Als ich aber sah, dass Mario Cippolini zurückfiel und er noch vier Kollegen dabei hatte sowie weitere Sprinter mit ihren Helfern reißen ließen, habe ich mir gesagt, ich bleibe einfach hier. Es macht keinen Sinn, sich im Roten Bereich am Berg breit zu fahren, um dann im Ziel platt zu sein.“

Sein Plan ging auf und nach einer Verfolgungsjagd über 25 Kilometer war das Hauptfeld wieder geschlossen. "Um es kurz zu machen: Ich gewann den Massensprint in Mondragone“, schreibt der ehemalige Festina-Profi in seinem Buch "Sprinterjahre“. Das erfolgreiche Ende Etappe wurde natürlich begossen.

Wüst zu radsport-news.com: "Wir haben natürlich im Bus gefeiert, da gab es eine Flasche Champagner. Damals war das noch so. Da stand beim Abendessen auch eine Flasche Rotwein auf dem Tisch. Ob die dann leer war oder nicht, das war egal. Ich komme ja auch noch aus einer Zeit, in der neben dem Radsport gelebt wurde. In dem Sinne von Genuss. Gut und lecker essen, sich auch mal etwas gönnen. Der Radsport, wie er heute ist, wäre nicht so ganz meine Welt. Wir sind keine Roboter, wo man schaut, das muss jetzt rein an Nahrung und das ist das Beste für den Körper. Es ist immer noch der Kopf, der den Körper steuert. Und 30 Prozent Lebensqualität aufzugeben, von mir aus auch nur zehn Prozent für drei Prozent Leistung. Das geht auf Dauer nicht gut.“

Wenn man seine Einstellung kennt, ahnt man, wie sehr ihn dann die Unterkunft traf, die ihn nach der Siegesfeier im Bus erwartete. Wir zitieren aus seinem Buch: "Wir waren alle in wirklich ausgezeichneter Laune, aber die war schlagartig wieder weg, als wir unser Hotel in der Nähe von Napoli bezogen. In einer nicht asphaltierten Sackgasse stand ein alter Schuppen - das sollte das Hotel sein, indem wir übernachten wollten? Als wir die Zimmertür öffneten, bot sich uns ein trauriger Anblick. Ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch und zwei Betten, zusammen waren sie sicher weit über hundert Jahre alt und die Matratzen auf den Betten noch älter. Das Bad war einen Quadratmeter groß. Um zu duschen, musste man breitbeinig über der Kloschüssel stehen. Nachdem mein Zimmerkollege Fabian Jäger damit fertig war, stand das Zimmer allerdings komplett unter Wasser. Also ging ich in den Bus duschen.“

Der Verlauf des Abends gestaltete sich nicht besser. Wüst: "Ich stand am Fenster und fragte mich, warum denn auf dieser holprigen Straße so viele Autos auf und ab fuhren. Als ich zum Abendessen hinunter ging, klärte sich das Rätsel auf. Direkt vor der Tür war der Straßenstrich und einige der Damen frequentierten auch unser Hotel, wenn der Kunde das so wünschte. Wir wohnten im Puff!“

"Wenn ich zu wählen hätte, würde ich wieder die frühere Zeit wählen"

Zu schrottigen Unterkunft gesellte sich auch der Hunger. Wüst in seinem Buch: "Nachdem wir fast eine Stunde auf unser Essen gewartet hatten, platzte mir der Kragen und in einem für mich eher untypischen Gezeter verließ ich das Restaurant nach dem Salat. Das konnte wohl nicht wahr sein. Eine Stunde Wartezeit für einen Teller Pasta. Da ich riesigen Hunger hatte, war mein Problem mit dem Salat nicht gelöst, sondern es hatte sich eher verschlimmert. Woher soll ich den Treibstoff für die morgige Etappe bekommen?“ Er aß ein paar Riegel und holte sich eine Tablette beim Teamarzt, um überhaupt schlafen zu können. Sein Fazit: "Wenn das nicht eine tolle Belohnung für den Etappensieg war: kein Abendessen, ein Schrottbett im Puff und die chemische Keule, um überhaupt zu schlafen … Grazie Mille!“

Trotzdem würde Wüst lieber früher als heute Rennen fahren. "Klar, in Zeiten der Corona ist alles anders“, erklärte er gegenüber radsport-news.com, um dann weiter auszuholen: "Wie wenig Rennen heute gefahren werden und wieviel dafür vorbereitet wird. Ich habe meine ganze Karriere lang alles aus dem Gefühl heraus gemacht. Ich hatte die letzten zehn Jahre immer mehr als 100 Renntage. Ich habe mich leichter gequält, wenn ich Rennen gefahren bin und am Ende die Chance hatte, zu gewinnen.“

Virtuelle Rennen zu fahren oder auf der Rolle zu trainieren, möchte er sich lieber nicht vorstellen. Wüst: "Zehn Intervalle a sieben Minuten mit 450 Watt, dazwischen zwei Minuten Pause. Das ist alles so wissenschaftlich strukturiert. Das ist nichts für mich. Mich passioniert der Kampf Mann gegen Mann. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich wieder die frühere Zeit wählen, wo es nach fünf Stunden Training zwei, drei Kölsch zum Mittagessen gab, bevor Siesta gemacht wurde. Heute flattert bei allen das XS-Trikot am Ärmel.“

Wenn die rheinische Frohnatur, die heute auf Mallorca die Casa Ciclista ("Haus des Rennradsportlers“) mit fünf Doppelzimmern und fünf Bädern in der Cala Murada betreibt, an die aktuelle Corona-Pandemie denkt, ist die gute Laune gedämpft. Wüst: "Meine Frühjahrssaison ist am 13. März gestrandet, vor September geht es nicht weiter.“

Deshalb ist er nach Köln zurückgekehrt, wo er ein personalisiertes Training anbietet. Wüst: "Ich stehe auf dem Standpunkt, dass sich viele Hobbyfahrer nicht durch hartes Training und Rollenfahren verbessern. Sondern durch die bessere Fahrtechnik. Beispielsweise, wie man schnell in die Kurve geht. Wie bremse ich später als andere? Ich mache Fahrtechnik-Workshops als Personaltrainer in dem Rahmen, wie es jetzt erlaubt ist. Sprich mit ein oder zwei Personen und dem nötigen Abstand.“

Mehr Informationen zu diesem Thema

09.05.2023Wegmanns großer Coup mit dem Bergtrikot

(rsn) - Ehe Pascal Ackermann im Mai 2019 das Maglia Ciclamino nach Verona trug und somit die Punktewertung des 102. Giro d´Italia für sich entschied, war es der größte Erfolg, den je ein Deutscher

31.05.2020Arndt krönte seinen Giro über einen kleinen Umweg

(rsn) – Die Schlussetappe bei einer GrandTour zu gewinnen, ist immer etwas Besonderes. Beim Giro d`Italia 2016 gewann Nikias Arndt (Sunweb) das letzte Teilstück, das damals in Turin zu Ende ging.

31.05.2020Video- Rückblick: Als Lopez einem Zuschauer eine knallte

(rsn) - Am entscheidenden Tag des Giro d´Italia 2019 lagen die Nerven blank. Miguel Angel Lopez (Astana) befand sich in einer Verfolgergruppe die einem Trio Spitzenreiter Richard Carapaz (Movistar) n

31.05.2020Ackermann nimmt als erster Deutscher das Ciclamino mit heim

(rsn) – Gleich bei seiner ersten GrandTour überhaupt hat Pascal Ackermann (Bora – hansgrohe) geschafft, was vor ihm noch keinem seiner Landsleute beim Giro gelungen war. Der Landauer gewann 2019

30.05.2020Der Beginn von Marco Pantanis langem Leiden

(rsn) - Am Valentinstag, dem 14. Februar 2004, verstarb Marco Pantani in einem Hotelzimmer in Rimini an einer Überdosis Kokain. Doch so plötzlich sein Tod auch eingetreten ist, so elendig lang war d

29.05.2020“Il Falco“ demonstriert am Finestre seine Abfahrtskünste

(rsn) – Was haben Paolo Savoldelli, Alberto Contador und Simon Yates gemeinsam? Richtig, sie alle gewannen mindestens eine GrandTour. Alle trugen das Maglia Rosa beim Giro d’Italia. Und alle drei

28.05.2020Video-Rückblick: Simon Yates schlägt auch in Sappada zu

(rsn) - Nach der 15. Etappe des Giro d’Italia 2018 schien Simon Yates (Mitchelton - Scott) auf dem Weg zu seinem ersten Gesamtsieg bei einer GrandTour nicht mehr zu stoppen zu sein. In überragender

28.05.2020Bölts gewinnt überraschend die Königsetappe und rettet Telekom

(rsn) - Udo Bölts ist der Prototyp des selbstlosen Helfers, der Jan Ullrich durch die tiefsten mentalen Täler auf die schwersten Berge führte. Der Heltersberger ist aber auch ein großer Kämpfer.

27.05.2020Kluges verrückte letzte Minute in Cassano d´Adda

(rsn) - Beim Giro d’Italia 2016 räumten die deutschen Sprinter mit gleich sieben Etappensiegen groß ab. André Greipel war mit drei Tagessiegen dabei am erfolgreichsten, gefolgt von Marcel Kittel

26.05.2020Wütender Contador rächt sich für die Astana-Taktik

(rsn) – Im Sport gibt es zahlreiche Regeln, die für einen fairen Wettkampf sorgen sollen. Im Radsport werden diese Maßgaben vom Weltverband UCI vorgegeben. Sogar die Sockenlänge ist im Regelwerk

25.05.2020Video-Rückblick: Schachmann gelingt Giro-Coup in Prato Nevoso

(rsn) - Vor zwei Jahren fuhr Maximilian Schachmann beim Giro d’Italia den bis dahin größten Erfolg seiner Karriere ein. Der damals für das belgische Team Quick-Step Floors fahrende Berliner gewan

24.05.2020Video-Rückblick: Dumoulin muss “austreten“, Nibali schlägt Landa

(rsn) – Die Königsetappe des Giro d`Italia 2017 hielt eine der skurrilsten Szenen der vergangenen Jahre parat. Der Gesamtführende Tom Dumoulin musste wegen eines menschlichen Bedürfnisses 33 Kil

Weitere Radsportnachrichten

19.04.2024Die Aufgebote für das 8. Lüttich-Bastogne-Lüttich der Frauen

(rsn) – Mit der 8. Ausgabe des Lüttich-Bastogne-Lüttich der Frauen endet die Ardennenwoche. Während das Männerrennen von Lüttich aus nach Süden zum Wendepunkt in Bastogne und von dort wieder z

19.04.2024Die Aufgebote für das 110. Lüttich-Bastogne-Lüttich

(rsn) – Zum krönenden Abschluss der sogenannten steht am 21. April die 110. Ausgabe von Lüttich-Bastogne-Lüttich an. La Doyenne, wie das 1892 erstmals ausgetragene und damit älteste Eintagesrenn

19.04.2024Lopez wehrt alle Angriffe ab und gewinnt Tour of the Alps

(rsn) – Juan Pedro Lopez (Lidl – Trek) kam am Schlusstag der 47. Tour of the Alps (2.Pro) nicht mehr in Schwierigkeiten. Der Spanier selbst hat auf dem schweren letzten Teilstück seine Kontrahent

19.04.2024Die Strecke des vierten Monuments: Lüttich-Bastogne-Lüttich

(rsn) – Zum 110. Mal findet am Sonntag Lüttich-Bastogne-Lüttich (1.UWT) für die Männer statt – die Frauen bestreiten ´La Doyenne´ dagegen erst zum achten Mal. Die Strecke hat sich für beide

19.04.2024Im Chaos-Finale fahren Malmberg, Röber und Paluta in die Top 10

(rsn) - Auch im chaotischen Finale der 2. Etappe von Belgrade Banjaluka (2.2) waren die drei deutschen Kontinental-Teams vorne mit dabei. Während der Däne Matias Malmberg (Maloja Pushbikers) und Do

19.04.2024Kehrt der Intergiro bei der Italien-Rundfahrt zurück?

(rsn) - Auf einigen der von der RCS veröffentlichen Profilen der Italien-Rundfahrt taucht der Intergiro zum ersten Mal seit 2005 wieder auf. Der Intergiro ist eine Sonderwertung, bei dem die Zeit all

19.04.2024Skjelmose erklärt seine Unterkühlung beim Flèche Wallonne

(rsn) - "Skjelmose wird hier gerade vom Rad getragen und ist vollkommen am Zittern. Komplett kalt. Komplett im Arsch", hieß es nach einem Augenzeugenbericht unseres Mannes vor Ort am Mittwoch in unse

19.04.2024Querfeldeinstar Kuypers steigt auf und gibt Debüt in Lüttich

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Profiradsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder RÃ

19.04.2024Lüttich-Bastogne-Lüttich im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(rsn) – Lüttich-Bastogne-Lüttich bildet traditionell den krönenden Abschluss der Ardennenwoche. La Doyenne, das älteste Eintagesrennen der Welt, ist mit seinen kurzen, teils extrem steilen Anst

18.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wie geht´s zum Liveticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

18.04.2024TotA-Sturz: Harper kommt mit leichter Gehirnerschütterung davon

(rsn) – Entwarnung für Chris Harper: Der Australier von Jayco – AlUla ist bei seinem Sturz rund 25 Kilometer vor dem Ziel der Königsetappe der Tour of the Alps ohne schlimmeren Verletzungen dav

18.04.2024Steinhauser: Giro-Test mit Prädikat sehr gut

(rsn) – Den Feinschliff für sein Grand-Tour-Debüt holt sich Georg Steinhauser (EF Education – EasyPost) derzeit bei der 47. Tour of the Alps (2.Pro). In wenigen Wochen geht es für den Allgäue

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Belgrade Banjaluka (2.2, BIH)