Erst der Schock, dann der größte Triumph

Van der Breggen jubelt am Ende der Gefühlsachterbahn von Rio

Von Felix Mattis

Foto zu dem Text "Van der Breggen jubelt am Ende der Gefühlsachterbahn von Rio"
Sie kann es kaum glauben: Anna Van der Breggen ist Olympiasiegerin. | Foto: Cor Vos

08.08.2016  |  (rsn) - Am Ende war alles gut. Anna Van der Breggen (Rabo-Liv) konnte im Ziel an der Copacabana mit Marianne Vos ausgelassen über ihren großen Triumph jubeln, auf den sie seit Monaten hingearbeitet hatte. Denn die frisch gebackene Olympiasiegerin bekam Entwarnung: Annemiek Van Vleuten ginge es gut, sie sei ansprechbar. Einige Minuten zuvor sei es schwer gewesen, sich noch auf den Sport zu konzentrieren, erklärte die 26-jährige Niederländerin, die vor Emma Johansson und Elisa Longo Borghini Gold holte.

"Wir sahen Annemiek da liegen und das sah nicht gut aus", so Van der Breggen über den Moment, als sie in der gefährlichen Abfart von der Vista Chinesa an ihrer schwer in die Regenrinne gestürzten Teamkollegin vorbeiraste. Bis sie unten im Flachen ankam, quälten schreckliche Gedanken die Niederländerin und ihre Begleiterinnen, und in Ipanema setzte sie sogar für einen Moment die Brille ab, schien sich Tränen aus den Augen zu wischen. "Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Schalter wieder umlegen konnte. Aber dann hat Emma Johansson gesagt: 'Wir tun es für Annemiek!'"

Zu diesem Zeitpunkt musste man hinsichtlich des Gesundheitszustands von Van Vleuten noch vom Schlimmsten ausgehen, das bestätigte auch Vos im Ziel: "Ich hatte wirklich Angst. Die Reaktionen der Menschen dort sahen nicht gut aus. Aber man kann ja nichts tun", sagte die Titelverteidigerin, die sich im Verlauf des Rennens voll in den Dienst Van der Breggens gestellt und nicht nur Ausreißer zurück- sondern sogar Flaschen vom Mannschaftswagen abgeholt hatte, um am Ende sogar selbst noch Neunte zu werden.

Was den Fahrerinnen blieb, war ihr Bestes zu geben und bis zur Ziellinie voll durchzuziehen, um sportlich trotzdem noch das Beste herauszuholen. Und so spannten Van der Breggen, Johansson und Longo Borghini auf den flachen sechs Schlusskilometern gen Copacabana zusammen, um die 35 Sekunden große Lücke vor ihnen zu Solistin Mara Abbott aus den USA doch noch zu schließen. Es gelang auf den letzten 250 Metern.

"Ich konnte es nicht glauben. Ich sah das 300-Meter-Schild und dachte: 'Heilige Scheiße, ich kann das hier wirklich gewinnen", sagte Abbott, die am schweren Anstieg zur Vista Chinesa gemeinsam mit Van Vleuten den anderen Favoritinnen davongefahren war, dann in der Abfahrt Van Vleuten ziehen lassen musste und erst durch deren Sturz zur alleinigen Spitzenreiterin auf Gold-Kurs wurde.

Bis zwei Kilometer vor Schluss hielt die US-Amerikanerin ihren Vorsprung sogar noch recht konstant, doch dann brach sie völlig ein, schien auf dem Schlusskilometer fast zu stehen, als das Trio von hinten herankam. "Dann habe ich unter meinen Schultern durchgeblickt und sie waren direkt hinter mir. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, ich gewinne und dann... Es ist schrecklich."

Für Van der Breggen hingegen wurde aus dem Moment des Einholens die Erfüllung eines lange geträumten Traums. "Ich habe mich die letzten zwei Kilometer bewusst zurückgehalten, weil Emma Johansson sehr schnell ist", schilderte sie das Finale. "Ich habe gezockt. Und als ich dann das 150-Meter-Schild sah wusste ich, dass ich losfahren musste, weil meine Beschleunigung nicht gut genug ist, um noch länger zu warten."

Den Sprint um Gold fuhr Van der Breggen perfekt: Nachdem sie bei den Weltmeisterschaften in Richmond im vergangenen Jahr noch an erster Stelle auf der Zielgerade fuhr und Lizzie Armitstead so quasi den Sprint zum Titel anzog, setzte sie sich diesmal an die hinterste Position, überraschte Johansson mit ihrem Antritt und war dann bereits auf Geschwindigkeit, als die Schwedin reagieren konnte - und deshalb nicht mehr einzuholen.

Van der Breggen überquerte die Ziellinie, schlug die Hände vors Gesicht und schien ganz langsam zu begreifen, was sie gerade geschafft hatte - nach einem psychisch sehr harten Giro Rosa im Juli, bei dem sie im Formaufbau für Rio als Titelverteidigerin lange Zeit nicht mit den Besten klettern konnte. "Das ist alles so unwirklich. Es ist unglaublich", waren einige ihrer ersten Worte im Ziel. Als dann Vos das Ziel erreichte und auch die Entwarnung bezüglich Van Vleuten kam, konnte die Olympia-Feier der Niederländerinnen beginnen - wenn auch noch ohne die schwer gestürzte Teamkollegin.

Van Vleuten nämlich musste laut NOS.nl mit einer schweren Gehirnerschütterung und drei Knochenfrakturen im Rücken ins Krankenhaus gebracht werden, von wo sie später twitterte: "Ich bin jetzt im Krankenhaus mit einigen Verletzungen und Frakturen, aber es wird alles gut sein. Am meisten bin ich super enttäuscht nach dem besten Rennen meiner Karriere." Ohne den Sturz wäre Van Vleuten, die in der Abfahrt bereits deutlich Vorsprung auf Abbott hatte und außerdem die um Längen bessere Zeitfahrerin ist, in Rio vermutlich Olympiasiegerin geworden. So aber behielt sie etwas viel Größeres: ihr Leben.

Bevor es zum auf mehreren Ebenen dramatischen Finale gekommen war, erlebten die Zuschauer in Rio und vor den heimischen Bildschirmen ein packendes Rennen um den Olympiasieg, das in der ersten Rennhälfte die Belgierin Lotte Kopecky als Solistin mit bis zu 4:30 Minuten Vorsprung und dann vor allem das deutsche Team maßgeblich mitbestimmte. Romy Kasper fuhr eine Zeit lang als Solo-Verfolgerin von Kopecky und arbeitete sonst sehr viel im Wind gemeinsam mit Lisa Brennauer und Trixi Worrack für die Chancen von Kapitänin Claudia Lichtenberg.

Auf der langen, flachen Anfahrt an der Küste zur Schlussrunde über Vista Chinesa-Anstieg belebten die Frauen in Weiß das Rennen mit dem Versuch, das Feld an der Windkante zu zerteilen - vergeblich. Anschließend attackierte Worrack und initiierte so eine illustre siebenköpfige Spitzengruppe, der auch Vos und die französische Ex-Weltmeisterin Pauline Ferrand Prevot angehörte - zwei starke Kletterinnen und Mitfavoritinnen. Das Septett fuhr knapp anderthalb Minuten Vorsprung heraus, ehe es ins bergige Finale ging.

Doch dort rauschte das Feld von hinten unter dem Tempodiktat von Kletter-Ass Abbott heran. Die zweimalige Giro-Siegerin, die den Mortirolo im Juli vier Minuten schneller erklomm als alle Anderen, sorgte mit ihrer Geschwindigkeit auf den kommenden Kilometern für ein Ausscheidungsfahren, in dem es all ihren Kontrahentinnen schwer fiel, noch eine Attacke zu reiten.

Stattdessen musste sich eine Favoritin nach der anderen verabschieden: ganz früh die von Magen-Darm-Problemen geschwächte Lichtenberg, nur wenig später Weltmeisterin Armitstead und dann auch die Youngster Katarzyna Niewiadoma und Jolanda Neff sowie Abbotts Teamkolleginnen Evelyn Stevens und Megan Guarnier oder die Südafrikanerin Ashleigh Moolman-Pasio, die in den ersten Kehren noch Seite an Seite mit Abbott das Tempo bestimmt hatte.

Erst in einer flacheren Zwischenpassage traute sich Van der Breggen einen Angriff zu und sorgte so für die vorletzte Selektion: Nur Abbott, Longo Borghini und Van Vleuten konnten folgen. Kurze Zeit später verschärfte dann Van Vleuten das Tempo und war nun mit Abbott alleine, während Van der Breggen dahinter am Hinterrad von Longo Borghini fuhr und aus teamtaktischen Gründen natürlich keinen Meter mitführte. Johansson kam wieder an die Beiden heran und zu dritt ging es in die Abfahrt sowie schließlich auf die flache Zielanfahrt, wo das Trio doch noch erfolgreich Jagd auf Abbott machte.

Weiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößern

Mehr Informationen zu diesem Thema

21.08.2016Ernüchternde Olympia-Bilanz für deutsche Radfahrer

Rio de Janeiro (dpa) - Rudolf Scharping war fein raus. Den Debatten über neue Strukturen und einer besseren Nachwuchsförderung musste sich der Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer nach d

20.08.2016Spitz startet im Olympischen Mountainbike-Rennen

Rio de Janeiro (dpa) - Die Ärzte raten von einem Start ab, doch Sabine Spitz nimmt das letzte große Rennen ihrer Karriere trotzdem in Angriff. Entgegen der Empfehlung der Teammediziner wird si

19.08.2016Brethauer und Pries scheiden im Halbfinale aus

Rio de Janeiro (dpa) - Luis Brethauer und Nadja Pries sind beim olympischen BMX-Turnier im Halbfinale ausgeschieden. Der 23-jährige Brethauer verpasste im Deodoro X-Park von Rio de Janeir

19.08.2016Spitz: Weiter Fragezeichen hinter letztem Olympia-Start

Rio de Janeiro (dpa) - Die Vorbereitung auf ihr letztes olympisches Rennen hatte sich Sabine Spitz ganz anders vorgestellt. Angriffslustig wollte sie sein, mutig, der Konkurrenz das Fürchten l

18.08.2016Sagan will im Mountainbike-Rennen Spaß haben

(rsn) Straßen-Weltmeister Peter Sagan hat eher bescheidene Erwartungen, was seine Medaillenchancen im Olympischen Mountainbike-Wettbewerb angeht. "Ich bin seit sieben Jahren keine Mountainbike-Re

18.08.2016Mechaniker Knepper ärgert sich: Bei Tempo 70 flog der Sattel weg

(rsn) - Rio de Janeiro. Am Tag danach war der Rauch verzogen und Detlef Uibel bedankte sich bei Mechaniker Udo Knepper auch via Faceboook für die Zusammenarbeit. Sekunden nach dem dramatischen Sprint

17.08.2016Sky ohne Landa zur Vuelta, Ag2r mit Latour und Peraud

(rsn) – Das Team Sky muss bei der Vuelta a Espana kurzfristig auf  den Spanier Mikel Landa verzichten. Der 26-jährige Kletterspezialist leidet an einer Hüftverletzung. Für Landa wurde nun Landsm

17.08.2016Vogel: "Leicht gibt es bei mir nicht"

Rio de Janeiro (dpa) - Weit nach Mitternacht und angeschwipst von einigen Bierchen im Deutschen Haus fiel Kristina Vogel mit ihrer Goldmedaille ins Bett. Realisiert hatte die neue Sprintkönigin ihren

17.08.2016Olympia-Sonderstatus für die Briten?

Rio de Janeiro (dpa/rsn) - Erst die "Rambo"-Aktion von Mark Cavendish, nun der Keirin-Frühstart von Jason Kenny:  Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro gibt es Kritik an den Offiziell

17.08.2016Uibel: "Hinter den Briten fängt der Rest der Welt an"

Rio de Janeiro (dpa) - Die Goldmedaille von Kristina Vogel hat die Bilanz der deutschen Bahnasse bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro aufpoliert. Doch gerade der Rückstand zu den Briten ist eklat

17.08.2016Kenny holt sich im Keirin sein drittes Gold, Eilers wird Vierter

(rsn) – Jason Kenny ist der Gold-König der Olympischen Bahnwettbewerbe von Rio. Der 28-jährige Brite holte sich am Abend im Keirin seine dritte Goldmedaille bei diesen Spielen und seine sechste in

16.08.2016Vogel verliert den Sattel, aber gewinnt Gold

Rio de Janeiro (rsn) - Kristina Vogel hat bei den Olympischen Bahn-Wettbewerben in Rio de Janeiro im Sprint die Goldmedaille gewonnen. Die Erfurterin bezwang im Finale die Britin Rebecca James in zwei

Weitere Radsportnachrichten

25.12.2024Kräftezehrendes Jahr mit zwei Grand Tours

(rsn) – Die Ambitionen von Felix Gall (Decathlon – AG2R La Mondiale) waren vor dem Jahr 2024 berechtigter Weise groß. Denn der Österreicher konnte auf eine erfolgreichste Saison zurückblicken,

25.12.2024Alles offen nach einer erfolgreichen Saison

(rsn) - Das Resümee ihrer ersten vollständigen Profi-Saison dürfte durchweg positiv für die Schweizerin Elena Hartmann vom Team Roland ausgefallen sein. Erst vor zwei Jahren gelang der inzwischen

25.12.2024Traum erfüllt und doch unzufrieden

(rsn) – Es gibt durchaus einfachere Aufgaben als die Saison 2024 von Pascal Ackermann zu bewerten. Auch er selbst ist da ein wenig zwiegespalten. Schließlich hat er es mit dreißigeinhalb Jahren en

25.12.2024Meistertitel das Highlight im insgesamt bislang besten Jahr

(rsn) - Die abgelaufene Saison wird Franziska Koch vom Team dsm-firmenich - PostNL wohl noch länger in Erinnerung bleiben - war es doch mit Abstand ihre erfolgreichste, seit sie im Jahr 2019 beim Tea

25.12.2024Auch Colombo und vier Kollegen verlassen Q36.5

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

25.12.2024Im Überblick: Die Transfers der Männer-Profiteams für 2025

(rsn) – Nachdem zahlreiche Transfergerüchte seit Monaten in der Radsportwelt zirkulieren, dürfen die Profimannschaften seit dem 1. August ihre Zu- und Abgänge offiziell bekanntgeben. Radsport

25.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Frauen 2024

(rsn) - Wie bei den Männern so blicken wir traditionell am Jahresende auch auf die Saison der Frauen zurück und stellen die besten 15 Fahrerinnen unserer Jahresrangliste vor. Wir haben alle UCI-Ren

25.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Männer 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

24.12.2024Der größte Sieg war jener über Long-Covid

(rsn) – Es war eine Saison voller Höhen und Tiefen für Marlen Reusser (SD Worx – Protime), wobei vor allem in der zweiten Saisonhälfte die Tiefe übernahm – und zwar komplett. Denn die Schwe

24.12.2024Top-Sprinter mit starkem Sinn für Realismus

(rsn) - Mit zwei Siegen und insgesamt 21 Top-Ten-Resultaten bei UCI-Rennen zeigte Phil Bauhaus (Bahrain Victorious) auch 2024, dass er zu den schnellsten Männern im Feld zählt. Mit seiner Saison w

24.12.2024Mit 36 Jahren noch immer einer der Besten

(rsn) – Seit vielen Jahren gehört Riccardo Zoidl (Felt – Felbermayr) zu den absolut besten Fahrern Österreichs. 2013 erlebte er seinen absoluten Durchbruch, wo er sich mit zahlreichen Rundfahrts

24.12.2024Hamilton bricht sich das Schlüsselbein bei Trainings-Crash

(rsn) – Chris Hamilton, Tim Naberman und Oscar Onley sind am letzten Tag des Dezember-Trainingslagers des Teams dsm-firmenich – PostNL, das ab Januar Picnic – PostNL heißen wird, gestürzt. Wä

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine