Herbert Watterotts Paris-Roubaix-Retrospektive / Teil 1

An einem Sonntag in der „Hölle“

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

06.04.2012  |  (rsn) - Im nordfranzösischen Kohlerevier herrschen kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts Depression und Hoffnungslosigkeit. In Roubaix, einem der europäischen Zentren zur Herstellung von Wolle, malochen die Arbeiter unter miserablen Bedingungen sechs Tage in der Woche.

Um die Menschen von ihrer schweren Arbeit abzulenken und ihnen mehr Vergnügen zu bieten, lassen die beiden Industriellen Theo Vienne und Maurice Perez 1895 in der Stadt der 1000 Kamine ein Radstadion bauen. Nachdem sich die Bahn-Meetings großer Beliebtheit erfreuen, beschließen die beiden Unternehmer ein Jahr später, also 1896, ein Radrennen von der französischen Hauptstadt Paris nach Roubaix zu veranstalten. Im selben Jahr finden in Athen auch die ersten Olympischen Spiele statt.

1896 – Die Premiere
Am Ostersonntag, den 19. April 1896, starten morgens um 5.30 Uhr an der Pariser Porte Maillot 51 mutige und hartgesottene Rennfahrer zur ersten Austragung von Paris nach Roubaix. Mit Josef Fischer aus Atzlern bei Neukirchen beim Heiligen Blut in der Oberpfalz gewinnt ein Deutscher die Premiere. Der 31jährige mit dem Schnurrbart in Form eines Fahrradlenkers fährt einen Schnitt von über 30 km/h und erreicht das Velodrom nach einer Fahrzeit von neun Stunden und 17 Minuten mit 26 Minuten Vorsprung. Fischer wurde auf den letzten 40 Kilometer Kopfsteinpflaster von einem Pferd und einer Herde Kühe angegriffen.

Dritter wird der Franzose Maurice Garin, der damals am Bahnhof von Roubaix ein Fahrradgeschäft betrieb. Garin gewinnt 1897 und 1898 und wird Sieger der ersten Tour de France 1903.

1905 – Von der Kaserne in den Sattel
Im Jahr 1905 bejubeln die radsportverrückten Franzosen ihren neuen Liebling Louis „Trou-Trou“ Trousselier nach seinem Tour de France-Sieg mit fünf Etappenerfolgen. Zu Beginn des Jahres befindet sich der Franzose im Militärdienst und bekommt 24 Stunden Urlaub, um Paris – Roubaix zu gewinnen. Er wurde zum Nationalheld in dieser heroischen Zeit des Radsports.

1917 – Gesiegt und gefallen
Der Franzose Octave Lapize aus Montrouge (Departement Seine) gewinnt mit 21 Jahren 1909 erstmals die Königin der Klassiker, und damit beginnt eine große Karriere. Lapize siegt auch 1910 und 1911, also dreimal nacheinander. Das trägt ihm den „Titel“ Monsieur Paris-Roubaix ein. Dieses Kunststück gelang bis heute nur noch einem einzigen Fahrer, nämlich Francesco Moser aus Italien zwischen 1978 und 1980.

Der seit 1914 tobende Erste Weltkrieg beendet jäh die Karriere von Octave Lapize, der auch Toursieger 1910 war. Bei der Luftschlacht von Pont-à-Mousson, einem Städtchen an der Mosel auf halbem Weg zwischen Metz und Nancy in Lothringen, kommt der Franzose am 14. Juli 1917 – dem französischen Nationalfeiertag, ums Leben.

1919 – Das ist die Hölle
Der Erste Weltkrieg (1914-18) ist endlich vorbei. Neun Millionen Gefallene auf den Schlachtfeldern - eine grausame Bilanz. Unter den Toten befinden sich auch drei Tour de France-Sieger. Neben Octave Lapize auch der Luxemburger Fabrice Faber (Sieger Paris-Roubaix 1913, Tour de France 1909) und der Franzose Lucien Petit-Breton (Tour-Sieger 1907 und 1908).

Schwer verwüstet sind die endlosen Ebenen Nordfrankreichs. Als die Organisatoren zur Kontrolle den Parcours besichtigen, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens. Sie sind erschüttert vom Elend und Zustand dieser Region. „ Das ist die Hölle“, ruft einer den Streckenbauer. Ein Begriff, der bis heute Gültigkeit hat.

1923 – Alle sahen „rot“
Kein Belgier und auch kein Franzose gewinnt in diesem Jahr. Die Zuschauer reiben sich die Augen und verstehen die Radsport-Welt nicht mehr. Im Finale auf der Piste von Roubaix überspurtet der Schweizer Henri (Heiri) Suter aus Gränichen im Kanton Aargau die gesamte Konkurrenz und triumphiert im roten Dress mit dem weißen Schweizer Kreuz. Erst 2006, also 83 Jahre später, gewinnt mit Fabian Cancellara wieder ein Eidgenosse, der 2010 seinen Erfolg wiederholt. (Cancellara ist nach einem Sturz bei der Flandern-Rundfahrt am vergangenen Sonntag mit einem vierfachen Schlüsselbeinbruch außer Gefecht gesetzt. Damit fehlt bei der 110. Austragung einer der großen Favoriten.)

1927 - Pechvogel
Der Belgier Georges Ronsse ist 1927 der große Dominator bei der Quälerei über das Kopfsteinpflaster. Aber in den nächsten fünf Jahren bleibt er vom Pech verfolgt. 1928 überspurtet ihn der Franzose André Leducq, ein weiteres Jahr später hat er den Sieg bereits vor Augen. Aber im Regenbogentrikot des Weltmeisters rutscht Ronsse wenige Meter vor dem Ziel auf der Aschenbahn weg. 1932 versucht er es noch einmal. Er wird zum dritten Mal Zweiter, diesmal überspurtet vom Belgier Romain Gijssels.

1934 – Ein Mann auf einem Damenrad
Der Franzose Roger Lapébie aus Bayonne passiert als Erster das Ziel – auf einem Damenrad. Wenige Kilometer vor Roubaix hat Lapébie einen Defekt, schnappt sich das Rad einer Zuschauerin, schließt wieder zur Spitzengruppe auf und schlägt sie alle in einem atemberaubenden Spurt. Aber die Freude währte nicht lange. Weil das damalige Reglement einen Radwechsel noch untersagte, wurde der Franzose deklassiert und der Belgier Gaston Rebry zum Sieger erklärt. Als Rebry ein Jahr später zum insgesamt dritten Mal gewinnt, befindet sich das Ziel auf der Pferderennbahn von Marcq-en-Baroeul und 40.000 Zuschauer feiern den Belgier frenetisch.

1936 - Zielrichter und Zielfilm
Seit 1929 haben ausschließlich belgische Rennfahrer das schwerste klassische Eintagesrennen gewonnen. Das wurmt besonders die Franzosen, denn 1928 war es zuletzt ihr Landsmann und spätere Toursieger André Leducq (1932 vor Kurt Stöpel aus Berlin), der bei Paris-Roubaix erfolgreich war. 1936 machen der Belgier Romain Maes und der französische Straßenmeister Georges Speicher den Sieg unter sich aus. Alle Zuschauer sehen, dass Maes einen kleinen Vorsprung hat und jubeln. Auch das Zielfoto bestätigt Maes als Sieger.

Doch die alleinige Entscheidungsgewalt liegt beim Zielrichter, der hat offenbar „Tomaten auf den Augen“ und erklärt den Franzosen Speicher zum Sieger. Die knappste Entscheidung über Sieg und Niederlage fällt 1990, also 54 Jahre später. Erneute trennen Millimeter den Ersten und Zweiten. Diesmal ist der Zielfilm entscheidend. Nach 263 grausamen Kilometern gewinnt der Belgier Eddy Planckaert lediglich mit einem Zentimeter Vorsprung vor dem Kanadier Steve Bauer. Das Zielfoto musste extra vergrößert werden, um den Sieger zu ermitteln.

1949 – Campionissimo-Einspruch und zwei Sieger
Eine kleine Spitzengruppe wird im Jahr 1949 kurz vor der Einfahrt ins Velodrom von den Streckenposten falsch geleitet. Aber wie ferngesteuert gelangen die Fahrer durch einen Hintereingang auf das Zement-Oval und der Franzose André Mahé gewinnt. Den Spurt des großen Feldes entscheidet der Italiener Serse Coppi für sich. Dann kommt der Protest von Bruder Fausto und dem wird stattgegeben. André Mahé wird wegen Verlassens der eigentlichen Rennstrecke deklassiert und Serse Coppi zum Sieger erklärt. Erst nach neun Monaten kommt der Internationale Radsportverband zur Einsicht, revidiert die Entscheidung und Serse Coppi sowie André Mahé werden beide zu Siegern erklärt.

Für Fausto Coppi kam der ganz große Tag ein Jahr Später. 1950 fuhr der Italiener nach einem Solo über 45 Kilometer die gesamt Konkurrenz in Grund und Boden und triumphierte.

1958 – „Le Sprint royal“
„Quel final – incroyable“, schallte es 1958 aus den Kehlen der zahlreichen Reporter von Radio und Fernsehen auf der Tribüne im Velodrom. Vier Koryphäen kommen auf die Piste in Roubaix: die drei Belgier Rik van Steenbergen, Rik van Looy und Alfred Debruyne sowie der Spanier Miguel Poblet. Ein sogenannter Kaisersprint. Doch alle Vier gehen leer aus, werden vom unbekannten Belgier Leon van Daele noch überspurtet. Zweiter Poblet, Dritter van Looy. Die Sensation ist perfekt.


Teil 2 folgt


Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 70-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.

Für Radsport News taucht Herbert Watterott in die lange Geschichte von Paris-Roubaix ein und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden des französischen Frühjahrsklassikers, der für viele das schwerste Eintagesrennen der Welt ist.

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