Tour de France-Blog / Teil 4

"Ich hab´ mir fast in die Hose gemacht"

Von Andreas Schulz (Eurosport)

Foto zu dem Text "
| Foto: ROTH

04.07.2011  |  Nein, nicht ich. Aber ich kann mir nicht verkneifen, mich nach so einem packenden Mannschaftszeitfahren zu diesem Sekundenkrimi zu melden.

Es waren knappe Abstände vorhergesagt worden - aber dass am Ende sieben Teams innerhalb von 12 Sekunden liegen würden, hatte ich nicht erwartet. Gerade dann nicht, wenn ein Drittel aller Rennställe doch rund eine Minute und mehr Rückstand kassieren.

Schade, dass es für keinen der drei deutschen Trümpfe gereicht hat, aber der Triumph von Garmin liefert auch jede Menge schöner Geschichten, die einen späten Blog wert sind.

Vor allen anderen Favoriten gestartet, musste die Truppe anderthalb Stunden zittern, bis der Sieg feststand. "Die Spannung im Bus war unglaublich. Bei uns allen schlug das Herz so schnell wie während des Zeitfahrens selber. Es war ein ganz besonderer, ein magischer Moment", schilderte David Millar die entscheidenden Minuten.

Dann war der Coup perfekt, der ersehnte erste Sieg bei der nun vierten Teilnahme des Rennstalls eingefahren. Und das auch noch in der Lieblingsdisziplin Mannschaftszeitfahren und gekrönt mit dem Gelben Trikot.

Zig Kreise schließen sich

Teamchef Jonathan Vaughters, der aus seiner Besessenheit von dieser Disziplin keinen Hehl macht, konnte es kaum fassen, dass der Coup geglückt war: "Ich glaube, ich habe mir gerade in die Hose gemacht", war seine erste Reaktion via Twitter.

Nicht nur für ihn schloss sich mit dem hauchdünnen Sieg ein Kreis: Auch Hushovd, der im Bergtrikot um den Kurs jagte, war vor zehn Jahren schon im Mannschaftszeitfahren der Tour erfolgreich gewesen.

Nach durchwachsenem Frühjahr wurde der Weltmeister nun mit diesem Erfolg und dem "maillot jaune" belohnt - allein mit dem Norweger ließe sich eine halbe Sonderbeilage füllen. Doch auch viele weitere Teamkollegen schrieben heute ihre ganz besondere, eigene Geschichte:

Mehr als nur ein Sieg war es auch für David Zabriskie, sechs Jahre nachdem er in der Vendée erst zu Gelb gerast war, um dieses dann eben im Mannschaftszeitfahren durch einen Sturz kurz vor Ziel zu verlieren. Was für eine Revanche auch für Ryder Hesjedal, der 2009 und um Montpellier verzweifelt als fünfter Mann dem Tempo der Teamkollegen folgte und die dezimierte Truppe Platz zwei erkämpfte.

Welche späte Erfüllung für den Dopingsünder David Millar, der zum Ende seiner Karriere als geläuterter Athlet noch einmal ein solches Highlight genießen kann, elf Jahre nach seinem Auftakt-Sieg bei der Tour 2000. Was für eine Genugtuung auch für Christian Vande Velde, der gestern vielleicht schon die Chance aufs Podium verlor und heute diesen grandiosen Trostpreis erhielt.

Nicht zu vergessen, dass er es war, der im Mannschaftszeitfahren 2001 bei US Postal stürzte, Roberto Heras mitriss und sich schreckliche Vorwürfe machte, er habe die Truppe um den Sieg gebracht.

"Küchentraum" wird wahr

Im Jahr 2008 trug er beim Giro das Rosa Trikot nach dem Sieg im Mannschaftszeitfahren, wurde im Anschluss Vierter der Tour. Danach konnte er nach Stürzen nie wieder seine ganze Klasse zeigen. "Vor vier Jahren standen wir in seiner Küche und träumten davon", verriet Millar heute - und: "Ihm kamen die Tränen".

So wird es wahrscheinlich auch Tyler Farrar gegangen sein, der in der Stunde des Triumphes mehr als nur einen Gedanken für seinen verstorbenen Freund Wouter Weylandt gehabt haben wird.

Nicht zu vergessen Julian Dean: So viele Sprintsiege hat er als Anfahrer vorbereitet - heute war er ein Anfahrer der besonderen Art, der sein Team von der Startrampe weg perfekt aus dem Ort manövrierte und auf "Reisegeschwindigkeit" brachte.

Und wie muss sich Ramunas Navardauskas gefühlt haben: Als Neo-Profi rückte der Meister Litauens erst in letzter Minute und für viele extrem überraschend ins Tour-Team. Jetzt stand er an seinem zweiten Tour-Tag schon ganz oben auf dem Podest.

Schließlich fand ich es bemerkenswert und eine schöne Geste, dass der Sportliche Leiter Lionel Marie im ersten Sieger-Interview an unserem Mikrofon auch an seinen Mentor Roger Legeay dachte, der ihm "alles über das Mannschaftszeitfahren beigebracht" hatte.

Vorreiter ganz vorne

So - ich höre natürlich schon beim Schreiben das langsam immer lauter werdende Gebrummel: Sieger bejubeln? Im Radsport? Wo doch stets die kritische Vorbemerkung und zweifelnde Fußnote erste Bürgerpflicht sind?

Keine Sorge, so pflichtvergessen bin ich nicht. Aber als Begleiter und Beobachter muss ich ja auch irgendwann mal Stellung beziehen. Und wenn ich bei einem Team, seiner Leitung, seiner Philosophie und besonders seinen konkreten Maßnahmen im Kampf gegen Doping nicht Bauchschmerzen bekomme, sondern die Fakten zu einem guten Bauchgefühl führen - dann muss das auch mal gesagt werden.

Es ist einfach - und sehr oft auch die einfach richtige Position - sich an den Generalverdacht zu halten. Aber Vaughters und sein Team haben in den Jahren des Bestehens des Rennstalls immer wieder neben Worten auch Taten sprechen lassen und eine mutige Vorreiterrolle übernommen. Ein glaubwürdiges zusätzliches Kontrollprogramm, das etwa schon jetzt Test zu jeder Tages- und Nachtzeit erlaubt, Veröffentlichung von Blutwerten, strikter Verzicht auf Injektionen jeder Art, lange bevor dies nun allgemein verpflichtend wurde: Die Liste ist lang und deshalb ist es nicht fair, Garmin mit jenen Mannschaften in einen Sack zu stecken, die noch immer vor allem Teil des Problems und nicht der Lösung sind.

Vaughters nutzte den Moment des Sieges denn auch, um einmal mehr Klartext zu sprechen: "Natürlich gibt es viele Dopingfälle, aber das ist nicht unbedingt eine schlechte Sache: Das ist gut für die jungen Fahrer", erklärte er. "Sie sehen, dass das Kontrollsystem ein so hohes Niveau hat, dass die Betrüger erwischt werden - und dass es möglich ist, eine Karriere ohne Doping zu machen und dennoch Siege zu holen", so der einstige Armstrong-Teamkollege. Sein Fazit zum aktuellen Stand im Dopingkampf: "Ich glaube, eine große, große Mehrheit des Pelotons ist sauber.

So weit bin ich dann doch noch nicht - aber der Sieg von Garmin macht mir ganz sicher keine schlaflose Nacht. Und das liegt eben nicht nur an der Uhrzeit.

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.07.2011Teamwechsel, bitte!

(rsn) - Eigentlich hatte Cadel Evans bereits im Herbst 2009, als er mit einem brillanten Auftritt die Straßenweltmeisterschaft gewann, den Ruf eines Mannes abgelegt, der einfach keine wichtigen Radre

24.07.2011Die Spezialisten profitierten von den Regeländerungen

(rsn) – Mit neuen Punktesystemen für die Berg- und die Sprintwertung wartete die 98. Auflage der Tour de France auf. Für viele Fahrer, die sich in der Vergangenheit auf diese Sonderwertungen konze

23.07.2011Krönung oder drittes Drama?

(rsn) - Und täglich grüßt das Murmeltier? Mit ein wenig Übung könnte Cadel Evans ganz gut den mürrisch-melancholischen Bill Murray aus dem Kultfilm geben. Zum Abschluss der Tour zumindest könn

22.07.2011Comeback der „frischen Franzosen“

(rsn) - Die meisten Franzosen lieben ihre Tour de France bedingungslos, aber diese Liebe war zuletzt auch ein gespanntes Verhältnis. Seit dem Festina-Skandal 1998 hatten es Profis aus dem Gastgeberla

20.07.2011Doping: Wandel oder Weichspüler?

Wie geht´s uns denn heute? Zumindest einmal pro Tour muss die Gretchenfrage gestellt werden: Ist der Radsport auf dem Weg aus der Talsohle oder kurbelt er weiter eifrig auf die Klippe zu und stürzt

19.07.2011Ganz oder gar nicht!

(rsn) - „Ganz oder gar nicht“, möchte man all den Medien zurufen, die sich wegen der Doping-Skandale vergangener Jahre immer mehr aus der Radsport-Berichterstattung zurückziehen. Und am liebsten

18.07.2011Warum nicht in den Hindukusch?

Montpellier (rsn) - Die Tour de France hat nicht umsonst den Beinamen "Tour der Leiden weg". Jedes Jahr versuchen die Organisatoren, für Fahrer und Begleittross neue Schikanen einzubauen. Die erste

17.07.2011"It´s not a f...ing strip club"

(rsn) - Fabian Cancellara war sauer. Und wenn jemand mit dem Spitznamen "Spartakus" sauer wird, duckt sich selbst die aufdringliche Journalistenmeute weg. Vor wenigen Minuten hatte der Schweizer erst

15.07.2011Klöden ist mein „härtester Tour-Profi"!

(rsn) - Die Kollegen von der Zeitung mit den vier Buchstaben küren Johnny Hoogerland (Vacansoleil-DCM) heute zum härtesten Profi der Tour. Der Niederländer ist, im Gegensatz zu anderen Bild-Helden,

14.07.2011Sprinter-Rechenspiele

(rsn) - Mann, Mann, Mann! Haben Sie das gestern gesehen? Da hat sich der Mark Cavendish nicht die Wurst vom Brot nehmen lassen. Da konnte Andre Greipel seinem Ex-Kollegen nicht den Schaum vom Guiness

13.07.2011Noch ein "beschissenes kleines Rennen"?

(rsn) - „Greipel ziiiiiieht an Cavendish vorbei und gewinnt seine erste Tour-de-France Etappe!“ - ein schöner Ausruf, oder? Darauf haben deutsche Fans lange warten müssen. Man könnte sich glatt

09.07.2011Wer trägt die Verantwortung?

(rsn) – Die Tour ist die Tour, das wichtigste Radrennen der Welt. Die Pedaleure riskieren bei der Grand Boucle Kopf und Kragen und das im wahrsten Sinne des Wortes. So viele Stürze wie in dieser er

Weitere Radsportnachrichten

30.04.2024Vos feiert Sprintsieg in Teruel

(rsn) – Die Gewinnerin der 3. Etappe der Vuelta Espana Feminina by Carrefour.es ist Marianne Vos (Visma – Lease a Bike). Die Niederländerin sicherte sich den Tageserfolg in Teruel aus dem Sprint

30.04.2024Bike Aid bekommt erneut einen Etappensieg aberkannt

(rsn) - Innerhalb eines Monats haben UCI-Kommissäre dem Team Bike Aid den zweiten Etappensieg aberkannt. Nachdem Anfang April bei der Tour of Mersin (2.2) in der Türkei Oliver Mattheis Sieg annulli

30.04.2024Walscheids Eschborn-Frankfurt als Giro-Generalprobe mit Ewan

(rsn) – Im letzten Jahr war dem knapp zwei Meter großen und knapp 90 Kilogramm schweren Max Walscheid - damals noch im Dress von Cofidis - bei Eschborn – Frankfurt mit dem Sieg in der Bergwertun

30.04.2024“Hat Spaß gemacht“: Hollmann Bergkönig der Tour de Romandie

(rsn) – Bei der am Sonntag zu Ende gegangenen Tour de Romandie (2.UWT) hat Juri Hollman (Alpecin – Deceuninck) sein erstes Bergtrikot als Berufsradfahrer gewonnen. Den Grundstein dazu hatte der K

30.04.2024Kämna soll diese Woche nach Hause reisen können

(rsn) – Lennard Kämna ist noch immer auf Teneriffa im Krankenhaus, soll aber noch in dieser Woche nach Hause reisen dürfen. Das berichtet die BILD, nach einem Gespräch mit der medizinischen Abtei

30.04.2024In der Übersicht: Die Aufgebote für den 107. Giro d´Italia

(rsn) – Am 4. Mai beginnt in Venaria Reale nördlich von Turin mit dem Giro d’Italia (2.UWT) die erste Grand Tour des Jahres. Insgesamt 176 Fahrer aus 22 Teams nehmen die 107. Ausgabe der Italien-

30.04.2024Vollering unterschreibt Sponsoren-Deal mit Nike

(rsn) – Anna Henderson (Visma – Lease a Bike) wird nicht mehr zur 3. Etappe der Vuelta Espana Femenina antreten. Die Britin war im Finale des zweiten Teilstücks an der 3-Kilometer-Marke an den er

30.04.2024Völlig offenes Rennen mit kaum mehr Chancen für die Sprinter

(rsn) – Der 1. Mai: Während der Großteil der deutschen und österreichischen Bevölkerung den ´Tag der Arbeit´ feiert und wahlweise zu politischen Kundgebungen oder Frühlings-Wanderungen aufbri

29.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morg

29.04.2024Highlight-Video der 2. Etappe der Vuelta Femenina

(rsn) - Alison Jackson (EF Education – Cannondale) hat in einem chaotischen Finale in Moncófar die 2. Etappe der Vuelta Espana Femenina gewonnen. Die Kanadische Meisterin setzte sich im Sprint auf

29.04.2024Selig kurzfristig aus Astana-Aufgebot für den Giro gestrichen

(rsn) - Für Rüdiger Selig (Astana Qazaqstan) war der Giro d`Italia fest eingeplant. Mit seinem Sprintkapitän Max Kanter wollte er bei der ersten Grand Tour des Jahres um Etappensiege kämpfen. Doch

29.04.2024Jackson siegt nach Sturz-Chaos um Vollering, Vos und Lippert

(rsn) – Alison Jackson (EF Education – Cannondale) hat in einem chaotischen Finale in Moncófar die 2. Etappe der Vuelta Espana Femenina gewonnen. Die Kanadische Meisterin setzte sich im Sprint au

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour de Bretagne (2.2, FRA)